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Derwische am Gotthard? Für die SVP-Nationalrätin Sylvia Flückiger ist das ein Unding. Dass tanzende Derwische – für ihre ekstatischen Drehungen bekannte Angehörige eines muslimischen Ordens – in der Inszenierung «Sacre del Gottardo» zu sehen waren, veranlasste die Aargauer Politikerin sogar zu einer Anfrage an den Bundesrat. Flückiger wittert einen Verrat unserer Grundwerte.
Theaterregisseur Volker Hesse wiederum ist darüber irritiert, dass «eine wild gewordene SVP-Nationalrätin sich über islamistische Propaganda» äussere. Und watson nahm die Befürchtungen der Nationalrätin auf die Schippe.
Es war aber watson-User «banda69» vorbehalten, einen völlig vernachlässigten Aspekt in der ganzen leidigen Derwisch-Debatte in Erinnerung zu rufen:
In der Tat ist historisch belegt, dass muslimische Krieger im 10. Jahrhundert zeitweise Schweizer Alpenpässe kontrollierten. Diese sogenannten Sarazenen – diese Sammelbezeichnung verwendeten die christlichen Europäer im Mittelalter für die islamischen Völker im Mittelmeerraum – waren von ihrer Basis in Südfrankreich in das Gebiet der heutigen Schweiz vorgestossen.
Nach Südfrankreich waren muslimische Heere aus dem kurz zuvor eroberten Spanien bereits um etwa 730 gelangt. Später waren es Seefahrer und Piraten aus Spanien und Nordafrika, die feste Stützpunkte an der provenzalischen Küste errichteten. Um das Jahr 890 herum liessen sie sich in Fraxinetum (heute La Garde-Freinet bei St.Tropez) nieder, das sie arabisch Farahsanit nannten.
Von dort aus unternahmen die zum grösseren Teil wohl aus Berbern bestehenden Krieger auf der Suche nach Sklaven und Beute Raubzüge ins Hinterland, die sie bis Lyon, ins Piemont und ab 920 auch in die Schweiz führten. In den 930er-Jahren eroberten sie Genf, drangen über das Wallis bis nach Churrätien vor und überfielen den Bischofssitz in Chur. Die Mönche des Klosters Disentis flohen vor ihnen nach Zürich. 940 plünderten sie das Kloster St.Maurice im Wallis.
Kurz nach der Mitte des 10. Jahrhunderts beherrschten die Sarazenen Savoyen und grosse Gebiete im Süden und Westen der Schweiz. Im Osten stiessen sie bis Pontresina und St.Gallen vor. Sie kontrollierten wichtige Alpenübergänge wie den Simplon und den Grossen St.Bernhard. Diese Stellung nutzten sie aus, um Pilger und Kaufleute zu überfallen, aber auch um Handel zu treiben – in dieser Hinsicht nicht unähnlich den Wikingern, die zur selben Zeit die Küsten Westeuropas heimsuchten.
Zu Beginn agierten die Sarazenen aus Fraxinetum weitgehend autonom, doch ab 940 wuchs der Einfluss des umayyadischen Kalifats von Córdoba. Gleichwohl würde es entschieden zu weit gehen, die sarazenischen Gebiete im heutigen Frankreich und der Schweizer Alpenregion als Filiale dieses andalusischen Kalifats zu bezeichnen, wie es mitunter gemacht wird.
Das Ende der sarazenischen Herrschaft begann 972. In diesem Jahr entführten die Sarazenen bei Orsières im Wallis Abt Maiolus von Cluny. Der wichtigste Abt der westlichen Christenheit kam zwar gegen ein Lösegeld von 1000 Pfund Silber frei, doch die Empörung über diesen Übergriff war enorm. Graf Wilhelm I. von Provence sammelte ein Heer und schlug die Sarazenen in mehreren Schlachten. Entscheidend war der Sieg in der Schlacht von Tourtour. Danach griff er Fraxinetum an, das um 975 fiel. Die überlebenden Sarazenen wurden getauft und versklavt.
Obwohl sich die Präsenz der Sarazenen im schweizerischen Alpenraum über mehrere Jahrzehnte erstreckte, gibt es bis dato keine archäologischen Belege für sarazenische Siedlungen. Auch ist nicht sicher belegt, dass es die Sarazenen waren, die im Wallis als erste Wasserführungen (Suonen) anlegten, wie manchmal behauptet wird.
Was nun die Walliser Ortsnamen betrifft, die User «banda69» in seinem Kommentar anführt, so wird immer wieder behauptet, diese seien aus arabischen Bezeichnungen abgeleitet. Die linguistische Forschung lehnt diese Sarazenen-Hypothese jedoch ab. Pontresina dagegen ist ein Toponym, das zwar nicht aus dem Arabischen stammt, aber den Begriff «sarazenisch» enthält: Es taucht im 12. Jahrhundert als «pons sarasina» (sarazenische Brücke) auf.
Dennoch ist Vorsicht angebracht: Möglich ist nämlich auch, dass der Erbauer der Brücke Sarrazin oder ähnlich hiess – ohne dass es sich bei ihm um einen Sarazenen handelte. Dieser vornehmlich in der Schweiz und Frankreich verbreitete Familienname muss nicht zwangsläufig auf eine sarazenische Herkunft des Benannten hinweisen. Manchmal erhielten auch auffällig dunkle Menschen oder Roma diesen Namen.
Alles in allem ist es aber kaum denkbar, dass all diese sarazenischen Krieger, die während Jahren durch den Schweizer Alpenraum zogen, keine genetischen Spuren in der Bevölkerung hinterlassen haben sollen. Wer weiss: Vielleicht tummelt sich auch in der Ahnenreihe von Frau Flückiger der eine oder andere stolze muslimische Krieger.