Mit seiner ellenlangen Wutschrift im Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» schoss der preisgekrönte Schriftsteller und Dramaturg Lukas Bärfuss gegen fast alles und fast jeden in der Schweiz. Schon der Titel «Die Schweiz ist des Wahnsinns» lässt kaum etwas Gutes vermuten. Und tatsächlich, beim Rundumschlag kommt der Energiekonzern Axpo ebenso unter die Räder wie Christoph Blocher, die Justiz und die Medien.
Die Reaktionen liessen nicht auf sich warten. Das erkannte auch der Oltner Dichter, Schriftsteller und Kolumnist Pedro Lenz. In einem offenen Brief an seinen Berufskollegen prophezeit er: «Nur vor etwas will ich Dich warnen, lieber Bärfuss. Ich warne Dich vor der Rache derer, die Du herausforderst ... »
Bärfuss' Text wird in den Schweizer Medien nun breit abgehandelt:
«Tages-Anzeiger» und der Berner «Bund» resümieren die Wutrede so: «Nach der Lektüre des Essays fühlt man sich in ein zurückgebliebenes Drittweltland versetzt, so «zerrüttet», «gebeutelt» und abgehängt von allen modernen Prozessen und Entwicklungen ist das Land, das der Dramatiker mit Hassliebe beschreibt. Alles geht den Bach runter, es gibt kein Halten nirgends; überall ist Verlust an Qualität, Niveau und Haltung zu erkennen.»
Des Weiteren stellen die beiden Tamedia-Titel auf pointierte Weise die Urteilsfähigkeit von Bärfuss in Frage: «Je weiter die bärfuss'sche Darstellung des unaufhaltsamen Niedergangs unseres Kleinstaates fortschreitet, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass auch die analytischen Fähigkeiten des Autors schwer betroffen sind von diesem Zerfallsprozess.» Ihr Urteil: «Doch nicht die vielen Fehler machen die Schwäche des Textes aus. Es ist das undifferenzierte Zerzausen von allem und jedem, diese hirschhornsche Attackenattitüde: Ich kenne die Komplexität der Realität zwar nicht, weiss aber, woran diese krankt. Was Bärfuss ausser der feinen Ironie fehlt, ist das sezierende Besteck der Dialektik – genau das, was nicht nur linkes Denken ausmacht. Die Einsicht, dass unser Land nach rechts driftet, sollte doch dazu führen, dass man die Gründe dafür herausarbeitet und Ursachenforschung betreibt. Stattdessen wickelt sich der Autor selbstgenügsam in der Paranoia ein.»
Die jetzige Empörung der CH-Medien über #Bärfuss kann man auch als Warnung an Schweizer Autoren verstehen: "Publiziert nicht beim Preuss'!"
— Gabriel Vetter (@gabrielvetter) 16. Oktober 2015
Nicht ganz so hart ins Gericht geht die «Berner Zeitung». Sie schreibt: «Es ist ein Pamphlet, in dem der vor allem mit Bühnenstücken bekannt gewordene Autor fast niemanden verschont.» Und: «Die flüssig geschriebene Polemik in der FAZ erinnert an die Wurzeln des inzwischen etablierten Dramaturgen: Er hat gerne und nicht zu knapp provoziert», schreiben sie kurz und knapp.
Umso harscher urteilt die «Basler Zeitung». Sie zerreisst schon die Einleitung von Bärfuss’s Essay – «vor den Parlamentswahlen scheint die Lage so klar wie trostlos: Das Land ist auf dem falschen, rechten Weg. Mit der Kultur geht es bergab und mit den Medien auch. Und niemand empört sich – nur ich». Die BAZ kritisiert die «Kurzsichtigkeit» und die auf die Schweiz beschränkte Sichtweise; für den Autoren gebe es keine Welt ausserhalb der Schweiz: «Wenn sein Land, so wie er es beschreibt, des Wahnsinns ist, dann ist jedes Land der Welt des Wahnsinns – oder bereits in einem schlimmeren Stadium.»
Nach längerer Kritik auch über einer geprobten Rede von Bärfuss vom vergangenen Freitag zeigen sich die Autoren noch kurz versöhnlich: «Vielleicht muss man es so sehen: Lukas Bärfuss spielte mit seinem Text gestern in der FAZ und auch mit dem Auftritt vor einer Woche einfach seine Rolle – weil ihm nichts anderes mehr übrig bleibt in einem Umfeld, das ihm diese Rolle ja immer wieder zuschreibt.» Im übernächsten Abschnitt versuchen sie ihn mit dem Österreicher Thomas Bernhard zu vergleichen, seine Artikel stünden ja in der gleichen literarischen Tradition der Nestbeschmutzung: «Freilich zeigt der Vergleich mit Bernhard nur allzu brutal, wie limitiert Bärfuss in seinen literarischen Möglichkeiten ist: Thomas Bernhards Texte leben, er bringt die Sprache zum Klingen, während bei Bärfuss selbst eine Wutrede seltsam steril wirkt.» schreiben sie, ehe das Haar an dem des analytisches Damoklesschwert hängt, mit jedem Satz und jedem Kritikpunkt etwas weiter anreisst.
Die Quintessenz der BAZ: Bärfuss spreche nicht wie ein Dichter, sondern wie ein Politiker, Wirtschaftswissenschaftler oder Verbandsfunktionär, er verschanze sich in seiner geistigen Provinz und könne das Wichtige nicht vom Banalen unterscheiden.
Trotz der groben Kritik gegen den neuen Feuilletonleiter der «Neuen Zürcher Zeitung» – oder gerade deswegen – verzichtet das Zürcher Blatt auf einen gross angelegten Gegenangriff. Bärfuss findet lediglich im letzten Abschnitt eines Berichtes über die Frankfurter Buchmesse Erwähnung, und zwar mit der Aussage, dass Bärfuss «mit diesem furiosen Rundumschlag in bester Frisch-Manier der sechziger und siebziger Jahre seinen Ruf, dessen Nachfolger zu sein, festige».
Zurück zum offenen Brief von Pedro Lenz. Er hat recht bekommen mit seiner Prophezeiung: «Die gleichen Leute, die heute mit verklärtem Blick von der guten alten Zeit reden, als es in der Schweiz noch Intellektuelle vom Format eines Frisch oder Dürrenmatt gegeben habe, werden sich nicht zu schade sein, Dir mit breitem Strahl ans Bein zu pinkeln».
Lenz stellte sich, als einer der wenigen, offen und schützend vor seinen Berufskollegen. Nachdem er Bärfuss ausgiebig gelobt und noch ausgiebiger vor den Konsequenzen des FAZ-Artikels warnt, schliesst er mit den Worten: «Häb der Sorg Lüggu.»