
Sag das doch deinen Freunden!
Die Weihnachtskarte
eines Freundes bringt auf den Punkt, was viele denken: «Werden wir
älter und verstehen deshalb vieles nicht mehr in der ‹modernen› Welt? Oder wird die Welt einfach immer verrückter? Das frage ich
mich oft.» Wer kann es ihm verübeln. Blickt man zurück auf das
Jahr 2015, fallen einem in erster Linie negative Dinge ein: Krieg,
Terrorismus, Flüchtlingsströme.
Der europäische
Kontinent hat ein Jahr voller Krisen hinter sich, daran ist nichts zu
deuteln. Die Herausforderungen sind enorm und die kurzfristigen
Perspektiven nicht rosig. Viele sehen die Welt deshalb in düsteren
Farben, sie glauben, alles werde immer schlimmer.
Ist das so?
Wenn wir uns vom eurozentrischen Tunnelblick lösen, ergibt sich ein weitaus erfreulicheres Gesamtbild. Im globalen Kontext war 2015 «das beste Jahr in der Geschichte für den Durchschnittsmenschen», wie das US-Magazin The Atlantic schreibt. Mit anderen Worten: Der Menschheit als Ganzes ging es nie so gut wie heute.
Beispiele gefällig?
In diesem Bereich
sieht es auf den ersten Blick schlecht aus. Die Zahl der bewaffneten
Konflikte ist gemäss dem schwedischen Uppsala Conflict Data Program
(UCDP) seit 2010 von 31 auf 40 gestiegen. Trotz des grausamen
Bürgerkriegs in Syrien aber, ist die Zahl der Kriegstoten deutlich
geringer als in den Waffengängen des 20. Jahrhunderts. Während
wir uns an den Kalten Krieg als Zeit der Stabilität erinnern, hatten
die Grossmächte weltweit viele blutige «Stellvertreterkriege» ausgefochten. Heute dagegen finden kaum noch zwischenstaatliche
Kriege statt.
Dafür werden immer
mehr Konflikte auf diplomatischem Weg gelöst. Bestes Beispiel war
das Atomabkommen mit dem Iran. Die USA und Kuba haben nach
jahrzehntelanger Eiszeit ihre Botschaften wieder eröffnet. In
Kolumbien scheint ein Frieden zwischen Regierung und FARC-Guerilla in
Griffweite. In Libyen haben die verfeindeten Parteien ein
Friedensabkommen unterzeichnet, und im Januar finden erstmals
Gespräche zwischen der syrischen Regierung und der Opposition statt.
Der Ukraine-Konflikt konnte zumindest eingedämmt werden.
Autokraten wie Putin und Erdogan beherrschen die Schlagzeilen
und erwecken den Eindruck, die Demokratie sei auf dem Rückmarsch.
Das Gegenteil ist der Fall: Im Kalten Krieg waren nur einige Dutzend
Länder demokratisch regiert, heute sind es laut der US-Denkfabrik
Freedom House 125. Auch wenn weniger als die Hälfte vollständig «frei» sind, sind Fortschritte nicht zu übersehen: Der Machtwechsel in Nigeria, der Wahlsieg der Opposition in
Myanmar oder die Gemeindewahlen in Saudi-Arabien mit Beteiligung der
Frauen.
In Lateinamerika
waren in den 1980er Jahren überwiegend Diktatoren an der Macht.
Heute ist das von den hiesigen Linken gerne verklärte Kuba das letzte
undemokratische Relikt in der Region. Selbst im chavistischen
Venezuela konnte die Opposition bei den Parlamentswahlen einen
Erdrutschsieg feiern. In der arabischen Welt bleibt Tunesien trotz
Rückschlägen ein Hoffnungsschimmer.
In diesem Bereich
sind die Fortschritte besonders eindrücklich. So ist die Zahl der
unterernährten Menschen seit 1990 von 19 auf 11 Prozent gesunken.
Das sind immer noch viel zu viele, aber die Richtung stimmt. Gleiches
gilt für die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben und mit
weniger als 1.90 Dollar pro Tag auskommen müssen. Lag ihr Anteil
1990 noch bei 37 Prozent, so sank er gemäss der Weltbank im
September 2015 erstmals überhaupt auf unter zehn Prozent der
Weltbevölkerung. «Wir sind die erste Generation in der
Menschheitsgeschichte, die die extreme Armut beenden kann»,
meinte Weltbankpräsident Jim Yong Kim.
In dieses Bild passt, dass sich die Kindersterblichkeit seit 1990 mehr als
halbiert hat, von 90 auf 43 Todesfälle pro 1000 Lebendgeburten oder
von 12,7 auf rund 6 Millionen weltweit. Gleichzeitig erhalten immer
mehr Kinder eine Schulbildung. Die Zahl der Kinder, die keine Schule
besuchen, sank laut Angaben der UNO seit dem Jahr 2000 von rund 100
auf 57 Millionen. Und während damals 81 Mädchen pro 100 Knaben
einen Schulabschluss machten, sind es heute 93. Die Analphabetierungsrate sank in diesen 15 Jahren von 18 auf 14 Prozent der Weltbevölkerung.
2014 dominierte die
Ebola-Epidemie in Westafrika die Schlagzeilen. Nun hörte man kaum mehr
davon. Im November 2015 wurden in den betroffenen
Ländern Guinea, Liberia und Sierra Leone noch vier Neuansteckungen
verzeichnet. Gleichzeitig machte die Entwicklung eines Impfstoffs grosse Fortschritte. Auch im Kampf gegen Malaria
gibt es Ermutigendes zu vermelden, die Zahl der Infektionen ist seit
2000 um 37 Prozent zurückgegangen.
Die Kinderlähmung wütete 1988 noch in 125 Ländern. 2015 wurde in Afrika erstmals kein einziger neuer Fall verzeichnet. Heute existiert die Krankheit nur noch in Afghanistan und Pakistan, wo Impfstoffe häufig als westliche Verschwörung verteufelt werden. Der amerikanische Kontinent wiederum ist die erste Weltgegend, in der die Röteln 2015 ausgerottet werden konnten. Ein 15 Jahre dauerndes Impfprogramm hat den Durchbruch ermöglicht.
2015 war das wärmste
Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Auch bei uns spielte das
Wetter verrückt, mit Sommerhitze und einem bislang viel zu milden und
vor allem zu trockenen Winter. Ein Zusammenhang mit dem Klimawandel ist immer offensichtlicher. Umso wichtiger war
der Durchbruch bei der Weltklimakonferenz in Paris. 195 Länder plus
die Europäische Union einigten sich, die globale Erwärmung auf
unter 2 Grad zu beschränken.
Papier mag geduldig
sein, doch allein die Tatsache, dass kaum noch jemand die
Notwendigkeit von Massnahmen gegen den Klimawandel bestreitet, ist
ein Fortschritt. Und trotz des tiefen Ölpreises gibt es zahlreiche
Bestrebungen von öffentlicher und privater Seite, die Kosten erneuerbarer Energien zu senken und sie konkurrenzfähig zu machen.
Ein Beispiel ist die gigantische Batteriefabrik, die Tesla-Gründer
Elon Musk in der Wüste von Nevada errichtet.
Die Menschheit
befindet sich auf guten Wegen. Setzen sich die geschilderten
Trends im gleichen Tempo fort, werden Kindersterblichkeit und extreme
Armut bis 2030 weitgehend eliminiert sein und fast alle Kinder eine
Schulbildung erhalten. In Europa dagegen haben wir diese Ziele
weitgehend erreicht, weshalb wir viel sensibler auf negative
Entwicklungen reagieren.
Unsere Generation
hatte und hat das Privileg, in einem Europa zu leben, das so
friedlich und wohlhabend ist wie nie seit dem Auftauchen der ersten
Menschen. Daraus entstehen Verlustängste, wir fühlen uns bedroht, wenn plötzlich Tausende Flüchtlinge auftauchen. Dabei
kommen sie zu uns, weil es uns so gut geht. Und der
Terrorismus des «Islamischen Staats» ist nicht etwa ein Zeichen
von Stärke, sondern von Schwäche.
Die Brutalität der
Steinzeit-Islamisten ist ein Rückzugsgefecht gegen die Moderne. Ihr
Einschüchterungspotential entsteht aus dem durchaus modernen Umgang
mit den neuen Medien. Alles wird ins Internet gestellt und von den «klassischen» Medien reproduziert. Daraus entsteht, was der
Berliner Politologe Eberhard Sandschneider als «Wissensparadox» bezeichnet: Wir wissen mehr, aber verstehen weniger.
Deshalb glauben
viele Menschen, dass die Welt immer verrückter wird. Dabei ist das
Gegenteil der Fall. Man darf 2015 als das beste Jahr in der
Geschichte der Menschheit bezeichnen. Und 2016 dürfte nochmals
besser werden.
Aber ist schon leider so. Wir sind keine gesellschaft im aufschwung und erleben die welt aus einer gesättigten, trägen perspektive.