
Sag das doch deinen Freunden!
Das Jahr fängt ja gut an! Dieser Gedanke ging einem durch den Kopf, als islamistische Terroristen am 7. Januar 2015 die Redaktionsräume von Charlie Hebdo in Paris stürmten. Was niemand ahnen konnte: Die Mordserie bei der Satirezeitung und in einem koscheren Supermarkt bildete nur den Auftakt zu einem Jahr, das Europa in seinen Grundfesten erschüttern sollte.
Denn es kam noch
besser (Achtung Ironie!). Im Frühjahr erlebte die Eurokrise mit
voller Wucht ein Comeback. Wochenlang hielt uns die griechische
Tragödie in Atem, die gefundene «Lösung» steht auf wackeligen
Beinen. Im Spätsommer entwickelten sich die Flüchtlingsströme über das
Mittelmeer zu einer Flutwelle auf der Balkanroute. Und
am 13. November kehrte der Terror nach Paris zurück, noch blutiger,
noch schockierender als im Januar.
Man darf das Jahr
2015 ohne Übertreibung als Zeitenwende in der europäischen
Geschichte bezeichnen. Seit dem Ende des Kalten Krieges 25 Jahre
zuvor lebten die Europäer in einem Zustand der Selbstgenügsamkeit.
Die Gemeinschaftswährung und die EU-Osterweiterung liessen den
Kontinent nach Jahrhunderten von Kriegen und Zerstörung
zusammenrücken. Der Traum von einem vereinigten und grenzenlosen
Europa schien sich erfüllt zu haben.
An Krisen mangelte
es nicht. Kaum war der Eiserne Vorhang gefallen, brachen die Kriege
im ehemaligen Jugoslawien aus. Obwohl ihre Folgen längst nicht
bewältigt sind, erschütterten sie das Selbstverständnis im übrigen
Europa nur kurz. Auch der Terror schlug lange vor Paris zu. Der
blutigste Anschlag in der Europäischen Union seit dem Zweiten
Weltkrieg fand 2004 in Madrid statt, als Bomben in Nahverkehrszügen
explodierten und 191 Menschen töteten.
Die Bedrohung wirkte
dennoch irgendwie abstrakt. Das Terrornetzwerk al-Kaida hauste weit
entfernt hinter den sieben Bergen im Hindukusch. Der «Islamische
Staat», dessen Terror das heutige Europa bedroht, ist anders,
realer. Dafür sorgen seine clevere Propaganda und die jungen,
frustrierten Europäer, die ihm zugelaufen sind. Wenn sich dann noch
unzählige Flüchtlinge in die Gegenrichtung bewegen, wird die
Bedrohung konkret, wachsen Verunsicherung und Angst.
Europa wurde 2015
knallhart mit der Realität einer unruhigen Welt konfrontiert. «Die
Friedensdividende ist verbraucht», brachte es der frühere deutsche
Aussenminister Joschka Fischer im Interview mit watson auf den Punkt.
Vermeintliche Meilensteine wie der Euro und die Abkommen von Schengen
und Dublin haben sich als Schönwetter-Konstrukte entpuppt.
Dabei sind die
erwähnten Krisen nur ein Teil des europäischen Problems. Die
demographische Alterung ist ebenso eine Herausforderung wie die seit
Jahren schwächelnde Wirtschaft. Europa kann das Versprechen
eines stetig steigenden Wohlstands nicht mehr erfüllen. Die
Jugendarbeitslosigkeit liegt in einigen Ländern bei 50 Prozent.
Und im Osten spielt Russlands Präsident Wladimir Putin weiterhin mit
den Muskeln. Die Ukraine-Krise ist längst nicht gelöst.
Die vielfältigen
Herausforderungen scheinen Europa zu überfordern und zu lähmen.
Symptomatisch dafür ist das Verhalten der deutschen Bundeskanzlerin
Angela Merkel, der heimlichen «Chefin» des Kontinents. Spielte
sie in der Griechenland-Krise die knallharte Zuchtmeisterin,
wurde sie angesichts der Flüchtlingswelle zur empathischen «Mutter
Teresa», die mit ihrer «Willkommenskultur» die Menschen
gleichzeitig bewegte wie erschreckte.
Zuvor war Merkel
vorab als Verwalterin des Status Quo bekannt. Sie kürzte die Hilfe
vor Ort für die syrischen Flüchtlinge. Nun kamen sie halt nach
Deutschland. Sie wehrte sich gegen den EU-Beitritt der Türkei und
hielt sich Recep Tayyip Erdogan vom Leib, als dieser noch mehr ein
Reformer denn ein Autokrat war. Nun musste sie vor ihm regelrecht zu
Kreuze kriechen, wenn dieser Ausdruck in Zusammenhang mit Erdogan
nicht irgendwie deplatziert wirken würde.
Europa zahlt einen
hohen Preis für die fehlende Weitsicht seiner Politiker. Gräben,
die zugeschüttet schienen, wurden neu aufgerissen. In der
Eurokrise öffnete sich die Kluft zwischen dem Norden und den überschuldeten Ländern des Südens. Die Flüchtlingskrise offenbarte,
dass die kulturellen Differenzen zwischen West und Ost längst
nicht überwunden sind. Es zeigt sich nun, wie sehr die Staaten
hinter dem Eisernen Vorhang von der wirtschaftlichen und
gesellschaftspolitischen Dynamik im westlichen Europa der
Nachkriegszeit abgekoppelt waren.
In der Krise wächst
die Versuchung, sich in die vermeintliche Geborgenheit des
Nationalstaats zu verkriechen. In Polen und Ungarn haben
nationalistische Parteien die Mehrheit im Parlament erobert. Sie
wollen den Staat auf eine Weise umbauen, die Besorgnis erregt. In
Dänemark sind sie indirekt an der Regierung beteiligt. In Frankreich
rüttelt Front-National-Chefin Marine Le Pen an den Türen zur Macht.
Unrühmlicher Spitzenreiter im westlichen Europa in Sachen
Rechtsnationalismus ist die Schweiz, wo die SVP bei den Wahlen im
Oktober knapp 30 Prozent erreichte.
Von allen Seiten
zerren Fliehkräfte am europäischen Einigungswerk, nicht nur im
Osten. Im Norden zeigte sich Schweden in der Flüchtlingskrise von
der grosszügigen Seite, Dänemark und Finnland setzten auf
Abschottung. In den Südländern befindet sich die Linke auf dem
Vormarsch, sie hat die Wahlen in Griechenland, Portugal und zuletzt Spanien gewonnen und propagiert ein Ende oder zumindest eine Lockerung der Sparpolitik. Und im
Westen wird der britische Premierminister David Cameron wohl schon
nächstes Jahr über den Verbleib in der EU abstimmen
lassen.
Cameron ist gegen
einen «Brexit», aus gutem Grund. Er weiss, dass selbst das stolze
Britannien als «Einzelkämpfer» in der Welt einen schweren Stand
hätte. Gleiches gilt für Deutschland und Frankreich, wie Joschka
Fischer bei seinem Auftritt in Zürich betonte. Sie sind nur kleine
Akteure im Vergleich mit den USA oder den aufstrebenden Riesen China
und Indien. Man könnte auch Brasilien oder Nigeria erwähnen, zwei
Länder mit grosser Bevölkerung und Potenzial. Ein Zerfall der EU macht Europa zum irrelevanten Kontinent.
Die Antwort auf das
Krisenjahr 2015 lautet deshalb nicht weniger, sondern mehr Europa.
Mit einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftspolitik lassen sich
künftige Eurokrisen eindämmen. Eine gemeinsame Aussen- und
Sicherheitspolitik erlaubt eine bessere Sicherung der Aussengrenzen
und ein stärkeres Auftreten des Kontinents auf der Weltbühne. Dazu
gehört auch die militärische Option. Die alte Masche, wonach die
Europäer die «Drecksarbeit» den Amerikanern überlassen, zieht
nicht mehr. Die USA werden sich ohnehin zunehmend nach Asien
orientieren.
Für derart radikale
Schritte sind viele Europäer mental nicht bereit. Realistischerweise
muss die EU sich von der Illusion einer «immer engeren Union» verabschieden. Dieser Schritt bleibt einer «Koalition der Willigen» um das Führungsduo Deutschland und Frankreich vorbehalten, die die
Integration vertieft. Die übrigen Staaten nehmen auf der Basis des
Binnenmarkts mehr oder weniger stark daran teil. Ein solches Europa
könnte auch für die Schweiz zum Thema werden.
Ein dickes
Fragezeichen ist mit dieser Idee verbunden: Das Hauptproblem im
heutigen Europa ist nicht Orban oder Kaczynski, weder Griechenland
noch Grossbritannien. Es ist das notorisch reformresistente
Frankreich, das seiner glorreichen Vergangenheit nachtrauert.
Erschreckend viele junge Wähler lassen sich von den abstrusen
Abschottungs-Fantasien des Front National anziehen. Zwar hat die
zweite Runde der Regionalwahlen gezeigt, dass der Weg für Marine Le
Pen in den Elysée-Palast weit ist. Aber was geschieht, wenn der
Terror noch mehrmals zuschlägt?
Im besten Fall
findet Frankreich einen Ausweg aus seinem Dauer-Malaise, kommt die
Wirtschaft ohne das «Doping» durch die Europäische Zentralbank
in Fahrt, sorgen die Flüchtlinge für eine Revitalisierung des
alternden Kontinents. Kommt es hingegen knüppeldick, erleben wir eine Renationalisierung. Der Kontinent zerfällt in seine
Einzelteile, die versuchen werden, sich die
Zumutungen dieser Welt vom Leibe zu halten.
Die stark
globalisierte Schweiz wäre davon massiv betroffen. Den Kriegen und
Katastrophen des 20. Jahrhunderts konnte sich unser Land mit Schlaumeierei, Skrupellosigkeit und einer gehörigen
Portion Glück entziehen. In einem Europa, in dem jeder gegen jeden
agiert und der Protektionismus blüht, dürfte dies kaum mehr
gelingen. Das Ende der EU, dieser feuchte Traum vieler
SVP-Anhänger, könnte sich als Alptraum entpuppen.
Die Schweiz hat
allen Grund, auf eine Weiterführung des europäischen
Einigungsprojekts zu hoffen. Die Chancen sind intakt, dass es
gelingen wird, auch wenn der Weg dorthin schmerzhaft sein dürfte.
Weitere Terroranschläge sind nicht nur möglich, sondern
wahrscheinlich. Die Eurokrise und die Integration der zahlreichen
Flüchtlinge bleiben grosse, ja herkulische Aufgaben.
Dabei zeigen gerade
die Flüchtlingsströme, dass die europäischen Werte Freiheit,
Demokratie und Marktwirtschaft eine ungebrochene Attraktivität
ausstrahlen. Warum sonst ist der vermeintlich marode Kontinent ein
solcher Magnet für Menschen auf der Suche nach einer besseren
Zukunft? Die Syrer wollen nicht in die reichen Golfstaaten, sie haben
keine Lust auf den dortigen Steinzeit-Islam samt Religionspolizei.
Sie träumen von Frieden und Wohlstand in Europa. Gleiches gilt für
zahlreiche junge, gut ausgebildete Russen, die dem Putinismus den
Rücken kehren.
«Am Ende dieser
Krisen werden wir es mit einem stärkeren Europa zu tun haben», ist
Joschka Fischer, dieser leidenschaftliche Europäer, überzeugt.
Seinen Optimismus begründete er in Zürich mit
einer Anekdote. Oft genug habe er sich in seiner Zeit als deutscher
Aussenminister grün und blau geärgert, wenn in den EU-Gremien
stundenlang bis aufs Komma um einen Kompromiss gefeilscht wurde. «Aber dann sagte ich mir: Keep cool, Fischer, deine Vorväter sind
wegen solchen Streitigkeiten aufs Schlachtfeld gezogen.»
Eine Rückkehr zu
einem solchen Europa kann sich definitiv niemand wünschen.