Goalie Stephan Birrer schüttelt seinen blass pinken Irokesen, steigt zwischen mehrheitlich grauen Mitpassagieren auf das Vierwaldstätter-Rundfahrtschiff und resümiert lachend: «Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit dem Schweizerkreuz auf der Brust auf dem Rütli stehe!» Birrer gehört mit Bruder Christoph und Christian Dantas zum Oltner Punk-Flügel der Strassenfussball-Nati. Mitspieler mit Suchtproblemen sowie Flüchtlinge aus Afghanistan und Eritrea vervollständigen die bunte Schar der Eidgenossen. Diese acht Spieler repräsentieren eine Schweiz, die weniger den Bilderbuch-Klischees entspricht als das umliegende Tellenland.
Doch sie können in Chile zu Helden der Surprise Liga werden, und beim 12. Homeless World Cup (HWC) in Chiles Hauptstadt Santiago die beste Platzierung eines Schweizer Teams erreichen und eventuell gar einen Cup gewinnen.
Die Chancen stehen nicht schlecht. Dieses Jahr besiegte die Surprise Nati im Street Soccer schon zwei All-Star-Teams mit Ex-Internationalen wie Andy Egli, Stephan Lehman, Stéphane Chapuisat oder Joël Magnin. Und Mitte September bezwang die Nati bei einem Turnier in Amsterdam die Auswahlen grosser Fussballnationen wie England oder Holland. Erst die Deutschen stoppten im Finale den Lauf der Schweizer.
«Wir hatten in jedem Match deutlich mehr Spielanteile. Ich kann eigentlich nur die Toreffizienz bemängeln», resümierte Coach David Möller ziemlich zufrieden. Die Treffsicherheit wurde im einwöchigen Trainingslager im Tellenland denn auch speziell trainiert, auf dass ab Sonntag in Chile «Tor, Tor, Tor!» gerufen wird.
Auf wen die Schweizer in der ersten Gruppenphase treffen werden, wird am Samstag ausgelost. Ab Sonntag wird dann bis zum Finaltag am 26. Oktober in den Street-Soccer-Arenen mitten in Santiago auf der Plaza de la Constitucion gespielt. Die Strassenfussballer-Selektionen aus Mittel- und Südamerika sind dabei erfahrungsgemäss stärker einzuschätzen, als die der europäischen Fussball-Grossmächte. Aufgrund der gesellschaftlichen Probleme in diesen Ländern spielen dort weitaus mehr Strassenfussballer in den sozialen Ligen.
Die Nationalmannschaft wird jedes Jahr neu gebildet, da man per Reglement als Spieler nur einmal die Chance hat beim Homeless World Cup zu spielen. Der Nidwaldner Marco Zanni fährt nun jedoch zum zweiten Mal mit. 2011 führte der damals in einem Methadonprogramm steckende 24-Jährige als Abwehrchef die Nati auf den 28. Platz – das bislang stärkste Schweizer Resultat. Doch der Cousin des ehemaligen Nati-Spielers Reto Zanni, der bald seine Kochlehre abschliesst und nun als erster Coach-Assistent der Surprise Nati ausgebildet wird, traut der Nati 2014 sogar noch mehr zu: «Das Team hat das Potential, es als erste Schweizer Nati in die obere Tableau-Hälfte der 48 Männerteams beim Homeless World Cup zu schaffen.»
Als erste Hürde dorthin müssen die Spieler erst 18 Stunden im Flugzeug sitzen. Für fast alle ist es der erste Flug. «Ein Mitspieler meinte, dass das anstrengend werde, aber wir haben ja Sitze und bekommen zu Trinken und zu Essen. Mein Weg in die Schweiz war da anders», erzählt Abraham Mekonen.
Nach seiner Flucht aus der eritreischen Armee überlebte er knapp einen 19-tägigen Horrortrip durch die Sahara. Nach zwei Jahren in Libyen musste er wegen des Bürgerkrieges per Fischerboot nach Italien übersetzen und passierte schlussendlich 2011 die Schweizer Grenze. Seit drei Jahren spielt er für das Team Surprise Basel. Dieses Jahr schaffte er nicht nur den Sprung in die Nationalmannschaft, er erhielt auch die B-Bewilligung und fand nach zwei Jahren Suche eine Lehrstelle. Mekonen: «Ich bin stolz für die Schweiz spielen zu dürfen. Das Land bietet mir die Chance mit 25 Jahren ein freies Leben aufzubauen. Ich hatte Glück, aber so eine Flucht möchte ich nie mehr durchmachen. Ich träumte lange von schlimmen Situationen. Zum Glück vergisst der Mensch vieles, sonst kann man nicht überleben. Und jetzt träume ich von Chile.»
watson berichtet nächste Woche regelmässig über Träume und Abschneiden der Schweizer Nationalmannschaft sowie anderer Teams beim Homeless World Cup