Die Türkei hat ein neues Feindbild: Das Königreich der Niederlande. «Hey Holland, wenn Ihr die türkisch-niederländischen Beziehungen vor den Wahlen am Mittwoch opfert, werdet Ihr den Preis dafür bezahlen», sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag in Istanbul. «Wir werden ihnen internationale Diplomatie beibringen», fügte Erdogan an. Wie tags zuvor warf er den Niederlanden nationalsozialistische und «faschistische» Methoden vor.
Die Nazi-Keule ist das neue Lieblingsspielzeug von Erdogan, der damit seine eigene Vorstellung von Diplomatie unterstreicht. In einem Punkt dürfte der erratische Staatschef recht haben: Die Eskalation vom Wochenende hängt stark mit den niederländischen Wahlen vom Mittwoch zusammen. Allerdings dürfte die Türkei mindestens so stark an der Schraube gedreht haben wie die Holländer, oder noch stärker. Der Eklat kommt ihr durchaus gelegen.
Mit den provokativen Auftritten von Politikern der Regierungspartei AKP, die in verschiedenen Ländern – darunter der Schweiz – Stimmung machen für die Verfassungsabstimmung vom 16. April, scheint es die Türkei regelrecht auf einen Streit mit den Europäern angelegt zu haben. Wie ernst aber kann man die Drohungen von Erdogan nehmen? Ein Überblick über Bereiche, in denen gemeinsame Interessen bestehen.
Auf den ersten Blick haben die Türken hier die besten Karten. Erdogan und seine Minister haben mehrfach gedroht, das im März 2016 mit der EU vereinbarte Flüchtlingsabkommen platzen zu lassen. In Europa fürchten sich viele vor Flüchtlingsströmen wie im Spätsommer und Herbst 2015. Womöglich zu Unrecht: Die faktische Abriegelung der Balkanroute und die teils bedenklichen Zustände in den Hotspots in Griechenland haben die Flucht über die Ägäis unattraktiv gemacht.
Die Türkei profitiert zudem finanziell, die Europäer überweisen ihr rund drei Milliarden Euro. Die Regierung in Ankara wird sich deshalb hüten, den Flüchtlingsdeal platzen lassen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die vehement geforderte Visafreiheit für türkische Staatsbürger noch immer auf sich warten lässt. Mit der Eskalation ist dies auf absehbare Zeit kein Thema mehr. Trotzdem blieb es in den letzten Tagen um das Abkommen« auffallend ruhig», schreibt Spiegel Online.
Aussenminister Mevlüt Cavusoglu drohte am Samstag indirekt mit einem Austritt aus der NATO. Die Türkei ist ein wichtiger Partner im nordatlantischen Verteidigungsbündnis. Sie verfügt über die zweitstärkste NATO-Armee nach den USA. Im Kampf gegen die Terrormiliz «Islamischer Staat» («IS») spielt sie eine zentrale Rolle. Vom Stützpunkt Incirlik werden Luftangriffe auf IS-Stellungen in Syrien und Irak durchgeführt. Die USA sollen zudem in Incirlik Atomsprengköpfe stationiert haben.
Ein Austritt der Türkei würde das Bündnis schwächen. Doch die Abhängigkeit auf der Gegenseite ist fast noch grösser, denn die Türkei befindet sich in einer geopolitisch unruhigen und instabilen Region, sie ist auf starke Partner angewiesen. Verteidigungsminister Fikri Isik fordert die NATO an der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar eindringlich auf, nicht nur im Osten aufzurüsten, sondern auch an ihrer Südflanke, «vor allem im Südosten».
Seit 2005 verhandelt die Europäische Union mit der Türkei über einen Beitritt. Die Gespräche kamen nur schleppend voran und liegen faktisch auf Eis, seit die Türkei nach dem Putschversuch im letzten Sommer zunehmend in Richtung Autokratie abdriftet. Präsident Erdogan stellte im November ein Referendum darüber in Aussicht, ob die Verhandlungen fortgesetzt werden sollen.
Allerdings haben die Türken auch in diesem Bereich handfeste finanzielle Interessen. Als Kandidat für einen EU-Betritt haben sie Anspruch auf Finanzhilfe von mehr als vier Milliarden Euro für den Zeitraum von 2014 bis 2020. Davon wurde bislang nur ein Bruchteil ausbezahlt, sagte der österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn in einem Interview. «Die Türkei bewegt sich im Moment leider nicht auf Europa zu, sondern von Europa weg», meinte Hahn.
Nach dem Wahlsieg der AKP 2003 erlebte die Türkei einen beispiellosen Wirtschaftsboom mit Wachstumsraten von chinesischem Ausmass. Er ist einer der Hauptgründe für die Popularität von Recep Tayyip Erdogan. Im unruhigen Jahr 2016 ging das Wachstum jedoch stark zurück, und die Auslandsinvestitionen brachen um fast ein Drittel ein. Experten warnen, dass sich die rapide Verschlechterung im Verhältnis zwischen der Türkei und Europa auf die Wirtschaft auswirken wird.
In Ankara ist man sich dessen bewusst und bemüht sich ungeachtet der Drohgebärden um neue Investitionen. Rund die Hälfte der türkischen Exporte geht in die EU und insbesondere nach Deutschland, den wichtigsten Handelspartner. Vizeregierungschef Mehmet Simsek reiste deshalb im Februar auf Werbetour nach Deutschland. Wichtig für die Türkei auch die seit 20 Jahren bestehende Zollunion mit der EU. Hier wird sogar über eine Ausweitung verhandelt.
«Lasst uns mal sehen, wie eure Flugzeuge in Zukunft in die Türkei kommen», sagte Recep Tayyip Erdogan am Samstag an die Adresse der Niederlande. Die Hoteliers in Antalya, Bodrum oder Side dürften zusammengezuckt sein. Die Türkei erwirtschaftet rund 30 Milliarden Dollar pro Jahr im Feriengeschäft, doch Terroranschläge und die politische Lage führten zu einem Einbruch. 2016 reisten rund 25 Millionen Touristen in die Türkei, zehn Millionen weniger als im Vorjahr.
Die Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel hat Gäste aus Deutschland zusätzlich abgeschreckt. Aussenminister Cavusoglu und Tourismusminister Nabi Avci kamen deshalb letzte Woche für eine Charmeoffensive an die ITB in Berlin, die weltweit führende Fachmesse im Fremdenverkehr. Sie kündigten unter anderem Subventionen für Airlines von 6000 US-Dollar pro Maschine an. So viel zu Erdogans «Landeverbot».
Die Auflistung zeigt, dass die Türkei stärker von Europa abhängig ist als umgekehrt. Kenner des Landes interpretieren die Eskalation der letzten Tage denn auch als Getöse im Kampf um das Verfassungsreferendum. Die Einführung eines Präsidialsystems, das Erdogan eine enorme Machtfülle einräumt, scheint nicht alle Türkinnen und Türken zu erfreuen.
Deshalb gilt es, die Auslandstürken zu mobilisieren und im Inland die Reihen gegen den gemeinsamen «Feind» zu schliessen. Nach dem 16. April könnte es zu einer Normalisierung kommen. Seinen grossspurigen Worten hat Erdogan ohnehin nur selten Taten folgen lassen.