«Als ich 14 war, wurde ich vergewaltigt», beginnt Michelle Thomson ihren Leidensbericht. Ihr Fall ist typisch für den Missbrauch Minderjähriger: Der Täter war ein Bekannter, der sie am frühen Abend nach einer Veranstaltung nach Hause bringen wollte. «Wir gingen einen anderen Weg, als normal gewesen wäre, aber ich habe mir nichts dabei gedacht.»
Als der Bekannte ihr sagte, er wolle ihr in einem Unterholz etwas zeigen, habe sie gestutzt. «Das muss ich zugeben. Es ging eine Alarmglocke an. Aber ich kannte ihn doch», schildert die Schottin. «Und ehrlich gesagt wusste ich damals auch nicht, was Vergewaltigung ist. Über sowas wurde nicht geredet.»
Die eigentliche Tat geschah «gnädigerweise schnell», sagt Thomson knapp. «Das erste, woran ich mich erinnere, ist ein Gefühl der Überraschung, dann der Angst und dann des Schreckens, als ich erkannte, dass ich einfach nicht entkommen konnte. Denn er war natürlich stärker als ich.»
Ihre Sinne seien wie betäubt gewesen und auch heute, 37 Jahre später, habe sie kaum Erinnerungen an das, was passierte. Das Unterbewusstsein entschiede, ob man in so einem Moment fliehe, kämpfe oder erstarre. «Und ich erstarrte, ich muss ehrlich sein. Anschliessend ging ich allein nach Hause. Ich weinte, mir war kalt und ich zitterte – wegen des Schocks.»
Thomson erzählte weder ihren Eltern, noch Freunden oder der Polizei, was passiert war. Das Opfer verdrängte, und das Mädchen hoffte gar, dass sie schwanger sei, damit die Tat doch noch herauskommt. «Ich habe mich geschämt», sagt sie mit Blick auf die folgenden Selbstvorwürfe:
Der Gewaltakt zog einen Schlussstrich unter ihre Kindheit. «Jetzt verstehe ich, dass es in einer wenn auch nur kurzen Zeit der Hypersexualität darum ging, diesem Vorfall einen Sinn und dem intimsten aller Akte einen neuen Rahmen zu geben. Meine Freunde von damals müssen die Veränderung in mir bemerkt haben», fährt Thomson frank und frei fort. Dann habe sie sich zurückgezogen.
Als sie zwölf Jahre später heiratete, habe sie es als ihre Pflicht empfunden, ihrem Mann davon zu erzählen. Sie konnte es nicht tun, ohne dabei in Tränen auszubrechen. «Erst in meinen Mitvierzigern habe ich mir Hilfe gesucht», erklärt die Politikerin und fasst zusammen: Die Folgen der Vergewaltigung für ihr Selbstvertrauen und ihr Selbstwertgefühl waren «fundamental und fatal».
Die 51-Jährige sagt, dass es ihr ja noch gut gehe: Sie sei seit 25 Jahren glücklich verheiratet. «Aber wenn das der Effekt [einer Vergewaltigung] ist, wie muss es für diese Frauen sein, die sowas jeden Tag ertragen müssen?» Denn Gewalt gegen Frauen ist an diesem 8. Dezember Thema im Unterhaus, und Thomsons starker Schlusssatz mit Blick auf aggressive Männer lautet:
Es ist eine grosse Rede der Politikerin, und sie nötigt einem Respekt ab. Es gibt Momente, in denen ihre Stimme zu kippen droht, doch die Abgeordnete für Edinburgh kontrolliert ihre Emotionen: Sie will kein Mitleid, es geht ihr um die Sache.
Was mich daran aufregt? Sicher das, worüber sie spricht, aber natürlich nicht, dass sie das ausspricht! Eher wo sie es sagt, vor welcher Kulisse.
Sieh selbst, wie viele Abgeordnete gekommen sind, um nach dem «UN International Day for the Elimination of Violence against Women» am 8. Dezember das Thema Gewalt gegen Frauen zu diskutieren:
Hier beginnt Thomson gerade ihre Rede und kündigt einen sehr persönlichen Beitrag an.
Das ist doch verlogen! So wie der «Telegraph» oder Spiegel Online, die schlagzeilenträchtig titeln, Thomson habe das Unterhaus zu Tränen gerührt. Die Emotionalisierung ist sowas von unnötig, denn der Inhalt ist emotional genug.
Und diese Überschriften zeigen, dass etwas nicht verstanden worden ist. Überlebende brauchen keine Tränen!