Er hat nie die Tour de France gewonnen, war nie Weltmeister und ist eigentlich vor ein paar Wochen in Pension gegangen. Trotz seiner 43 Jahre – just heute Mittwoch ist sein Geburtstag – werden ihm gute Chancen eingeräumt, den Stundenweltrekord zu knacken. Denn was Jens Voigt stets ausgezeichnet hat, ist sein unbändiger Kampfgeist. Der Deutsche schuf sich einen Namen als äusserst angriffslustiger Profi und fuhr so direkt in die Herzen der Fans. Legendär ist der Befehl an seine müden Beine, gewissermassen das Motto seiner Karriere: «Shut Up, Legs!» – «Haltet die Klappe, Beine, und arbeitet weiter!»
Einen Rekord hat er übrigens schon: 17 Mal bestritt Voigt die Tour de France – 14 Mal hat er sie auch beendet. Nur der Amerikaner George Hincapie und der Australier Stuart O'Grady bestritten das grösste Rennen der Welt ebenso oft.
Natürlich 60 Minuten. Aber Jens Voigt ist für seine Fans der «Chuck Norris des Radsports» und deshalb ist es durchaus möglich, dass er die Stunde schneller absolvieren kann … Die Designer seines Velos jedenfalls rechnen bereits fest damit, wie die Aufschrift auf dem Rahmen verrät:
MT @ESPCyclingQueen If @thejensie gets bored during his #HourRecord he can still read what is written on his bike. pic.twitter.com/5cVORG5GfH
— Eurosport (@Eurosport) 15. September 2014
Mit Sprüchen, die Fans über Jens Voigt zusammentragen und die im Twitter-Account #JensVoigtFacts gesammelt werden. Ein Müsterchen?
Wer «The Jensie» lieber hören will, anstatt Sprüche über ihn zu lesen, dem sei diese Website ans Herz gelegt. Auf einem Soundboard können (englische) Aussagen von ihm abgespielt werden. Aussagen wie «Ich werde dafür bezahlt, anderen Schmerzen zuzufügen» oder «Mein Gott, was tue ich hier bloss? Sind die wahnsinnig?!»
49,700 Kilometer. Das ist die Distanz, die der Tscheche Ondrej Sosenka im Sommer 2005 in Moskau innerhalb einer Stunde zurückgelegt hat.
Da erinnern Sie sich richtig. Der Schweizer Tony Rominger verbesserte den Stundenweltrekord im Herbst 1994 gleich zwei Mal, auf 55,291 Kilometer. Zwei Jahre später knackte der Brite Chris Boardman diese Marke, er legte in 60 Minuten 56,375 Kilometer zurück. Danach wurden allerdings Spezialräder verboten und diese Marken gelöscht. Boardman stellte danach auch mit den erlaubten Velos einen Weltrekord auf.
Ziemlich «normal», ähnlich einem Zeitfahr-Velo auf der Strasse inklusive des aerodynamischen Lenkers. Beim Eingänger fehlen Bremsen, vorne und hinten sind Scheibenräder montiert. Voigt muss nach dem stehenden Start möglichst rasch den grossen Gang in Schwung bringen.
Bis in diesem Frühling waren für Weltrekordversuche nur noch herkömmliche Strassenvelos zugelassen. Dann änderte der Weltverband UCI das Reglement und erlaubte auch Zeitfahr- und Bahnvelos. Diese aerodynamischen Vorteile kommen Voigt zugute, ebenso seine Körpergrösse von 1,90 m, die eine für einen Rekordversuch günstigere Sitzposition zulässt, als sie ein kleinerer Fahrer hätte.
Das Velodrome wurde kompromisslos auf Schnelligkeit hin geplant. Für die 250 Meter lange und elf Meter breite Holzpiste wurden Fichten aus Finnland und Sibirien verbaut – also extrem hartes Holz. Einschüchternd sind die beiden Steilwandkurven: 7 Meter hoch, 46 Prozent steil.
Der Schweizer Zeitfahr-Olympiasieger ist laut seinem Manager stinksauer über den Versuch seines Teamkollegen. «Jens Voigts Rekordversuch wurde vom Team Trek hinter Fabian Cancellaras Rücken geplant», sagt Armin Meier im Blick. Der Berner hatte lange damit geliebäugelt, den Weltrekord an sich zu reissen. Doch als im Mai das Reglement überarbeitet wurde und andere Velos zugelassen wurden, raubte ihm dies die Motivation.
«Ich hätte mich der Geschichte stellen wollen», so Cancellara. Er hätte nur zu gerne die Bestmarke des «Kannibalen» Eddy Merckx gebrochen – auf einem Velo, das sehr ähnlich war wie dasjenige des Belgiers 1972. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Vielleicht versucht sich Cancellara doch noch am Stundenweltrekord.
Ja. Davon gehen zwei aus, die es wissen müssen: Ex-Weltrekordler Chris Boardman und Tour-de-France-Sieger Bradley Wiggins. «Es wird kein Spaziergang werden, aber er kann es schaffen», sagt Boardman, der einst Voigts Teamkollege war. «Er wird fahren, als gäbe es kein morgen, und erst dann aufhören, wenn man es ihm sagt.»
Voigt wird nach seinem Rekordversuch wohl endgültig in Rente gehen. Doch die Jagd auf den Stundenweltrekord könnte wieder aufblühen. Darauf hofft zumindest der Weltverband UCI, der die Regeln aus diesem Grund modifiziert hat. Wiggins, möglicherweise Cancellara oder der seit einigen Jahren dominante Zeitfahrer Tony Martin (Deutschland) könnten sich ebenfalls daran versuchen. Den Stundenweltrekord zu besitzen, gilt schliesslich als die angesehenste Leistung im Radsport, da die Umstände immer gleich sind: ein Mensch, ein Velo, eine Stunde.
(Mitarbeit: Jürg Vollmer)