Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, auf einem Recaro-Sitz Platz zu nehmen, wenn man ab Zürich fliegt?
René Dankwerth: Genau kann ich Ihnen das nicht sagen, aber ziemlich hoch. Wir haben einen ganz ordentlichen Marktanteil und rüsten etwa den grössten Teil der Swiss-Flotte aus.
Recaro baut Sitze für die Economy und Business, aber nicht First. Warum?
Unser Kerngeschäft ist der Sitz, in der First Class geht es mehr um klassischen Möbelbau, zumal in sehr kleinen Stückzahlen. Die Segmente verschieben sich allerdings mit der Zeit. Unser aktueller Business-Class-Sitz für Langstrecken wäre vor ein paar Jahren locker als First-Class-Sitz durchgegangen.
Was ist schwieriger zu designen, Economy- oder Business-Sitze?
Beides ist schwierig. In der Economy-Class gilt es, trotz der vielen Einschränkungen hinsichtlich Platz und Gewicht einen maximal komfortablen Sitz zu machen. In der Business-Class stehen Luxus-Empfinden, Privacy und Bettfunktion im Vordergrund. Das sind völlig verschiedene Anforderungen.
Die Swiss hat unlängst angekündigt, die Sitzzahl in der Economy-Kabine zu erhöhen, den Komfort aber gleich zu halten. Wie geht das?
Das schaffen Sie nur mit schlankeren Sitzen. Wir haben uns in den vergangenen Jahren intensiv mit Bespannungskonzepten von Sitzen beschäftigt. So lässt sich mit reduzierter Schaumdicke gleichviel oder sogar mehr Komfort erzielen.
Wie misst Recaro Komfort?
In unserem Ergonomie-Labor haben wir zahlreiche Systeme im Einsatz, wir arbeiten zum Beispiel mit Pressure Mapping. Das sind Eindruckbilder von den Punkten, wo und mit welcher Intensität der Passagier mit dem Sitz in Berührung kommt. Wir messen zudem subjektive Eigenschaften, denn es gibt auch einen gefühlten Komfort.
Welche Faktoren beeinflussen den gefühlten Komfort?
Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass auf Langstreckenflügen Sitze mit flacher Konturierung als bequemer wahrgenommen werden. Die Passagiere bewegen sich, wechseln oft die Sitzposition oder wollen arbeiten. Zum Vergleich: Autositze sind in der Regel stark konturiert, sie haben sie links und rechts diese Wülste, die dem Fahrer Halt geben. Dafür kann man sich schlechter bewegen.
Wie lange hält ein Sitz, der jeden Tag beansprucht wird?
Unsere Sitze halten sehr lange. Wir liefern Ersatzteile für Modelle, die zum Teil seit 20 Jahren oder länger im Einsatz sind. Voraussetzung ist eine regelmässige Wartung, denn einzelne Komponenten wie der Schaum des Sitzkissens oder der Bezug halten nicht so lang. Gleichzeitig bringen wir Neuentwicklungen mit weniger Gewicht, besseren Unterhaltungssystemen und USB-Anschluss auf den Markt. Es ist dann an den Airlines zu entscheiden, wie schnell sie diese Innovationen in ihr Angebot integrieren wollen. Möglich ist auch ein Zwischenschritt, wenn wir bestehende Sitze im Auftrag einer Airline nachrüsten.
Aus wie vielen Einzelteilen und aus welchen Materialien besteht ein Sitz?
Die einfachsten bestehen aus 250 bis 300 Bauteilen, komplexere Modelle aus weit mehr. Bei den Materialien sind fast alle Gruppen vertreten, das macht unser Geschäft so spannend. In der Struktur kommen ein sehr hochwertiges Aluminium und kohlenstofffaserverstärkter Kunststoff zum Einsatz, die höchsten Anforderungen genügen. In der Oberfläche Stoff oder Leder.
Wann bietet sich Stoff an, wann Leder?
Auf der Kurzstrecke eignet sich Leder, weil es leicht zu reinigen ist, was bei kurzen Umschlagzeiten von Vorteil ist. Auf der Langstrecke ist das Komfortgefühl auf den atmungsaktiveren Stoffsitzen besser.
Was sind die Sicherheitsanforderungen an einen Sitz?
Fliegen ist das sicherste Fortbewegungsmittel, die Liste der Sicherheitsanforderungen ist entsprechend lang. Dazu gehört auch der Schutz des Passagiers bei einer Bruchlandung. Belastungen von 16 g (g-Kräfte, Anm. d. Red.) vorwärts und 14 g abwärts muss ein Sitz aushalten. Jedes einzelne Bauteil muss zudem einen Brandtest bestehen, also mindestens zwölf Sekunden Beflammung standhalten und danach von selbst erlöschen. Auch dürfen dabei keine gefährlichen Rauchgase entstehen. Alle unsere Sitze erfüllen diese Anforderungen vollumfänglich.
Wie unterscheidet sich ein moderner Sitz von einem Modell vor 20 Jahren?
Er ist leichter, sicherer, bequemer und vielseitiger. Er bietet etwa mehr Knieraum, weil die Literaturtasche nach oben hinter den Klapptisch versetzt wurde. Dasselbe gilt in der Breite dank besserer Armlehnen-Konzepte. Auf Schienbeinhöhe und im Fussbereich hat es mehr Platz gegeben, weil die Boxen für die Bordunterhaltung nicht mehr unter den Sitzen befestigt sind. Auch Features wie USB-Anschlüsse gab es früher nicht.
Ein Feature scheint sich nicht gross weiterentwickelt zu haben: Der Sicherheitsgurt.
Er ist ein bisschen leichter geworden, aber sonst ist er tatsächlich gleich geblieben. Der Gurt an sich ist nur ein Rückhalt-Konzept und Teil eines Gesamtsicherheitssystems. Dieses hat sich sehr stark verändert: Wie steif ist die Sitzstruktur, wie und wohin werden die Lasten abgeführt, wie stark gibt die Rückenlehne nach, dass keine Splitter oder scharfe Kanten entstehen: Hier hat sich sehr viel getan. Die Anforderungen sind heutzutage viel höher.
Wie wird ein Sitz in 20 Jahren aussehen?
Bei den Rahmenbedingungen wird sich nicht allzuviel verändern, denn es ist derzeit kein komplett neues Flugzeug in der Pipeline. Überschall- und Solarflugzeuge sind nicht in Sicht, das heisst für Recaro: Ein Flug über den Atlantik dauert immer noch so und so viele Stunden und der Passagier muss ebenso lange in seinem Sitz bleiben. Extremen Design-Konzepten wie dem Stehsitz gebe ich wenig Chancen.
Welche Trends sehen Sie innerhalb dieser Rahmenbedingungen?
Im Bereich Vernetzung wird viel passieren: Beim Boarding steht auf dem Bildschirm an Ihrem Sitzplatz Ihr Name, die Crew weiss schon über ihre Präferenzen Bescheid. Flexible Kabinenkonzepte: Kenne ich den Passagier neben mir, könnte ich statt zweier Sitze eine Art Couch buchen. Andernfalls eher einen Sitz mit mehr Privacy. Die Segmentierung in der Economy-Klasse Stichwort Premium Economy dürfte ebenfalls weiter fortschreiten.
Ihre Kunden sind die Airlines, aber der Nutzer ist der Passagier. Bekommen Sie gelegentlich Rückmeldungen?
Unsere Sitze sind gebrandet, dadurch werden wir identifizierbar und das ist gut so. Feedbacks direkt von den Passagieren bekommen wir also regelmässig. Wir bemühen uns aktiv darum, wenn wir zum Beispiel Vielflieger zu Studien einladen. Diese Kontakte sind für uns sehr wichtig. Eine kleine Ergänzung: Meistens sind die Airlines unsere Kunden, aber nicht immer. Der neue Airbus A350 zum Beispiel wird komplett mit Sitzen verkauft, in diesem Fall ist der Flugzeughersteller unser Kunde.