Ignazio Cassis steht im Dauerregen. Der Tessiner Freisinnige kann es als Aussenminister so gut wie niemandem recht machen. Das gilt besonders für das Europadossier, in dem ein Neustart nach der Beerdigung des Rahmenabkommens durch den Bundesrat vor eineinhalb Jahren nur schwer in die Gänge kommt. Weshalb der bilaterale Weg zu erodieren droht.
Staatssekretärin Livia Leu hat in Brüssel Sondierungsgespräche geführt, doch die Aufnahme von eigentlichen Verhandlungen ist nicht in Sicht. Dafür wird auch Cassis verantwortlich gemacht, dessen Motivation für den Job immer wieder infrage gestellt wird. «Er hasst sein Departement», sagte eine Exponentin einer proeuropäischen Organisation im Gespräch.
Diese im Sommer geäusserte Einschätzung war vielleicht etwas voreilig. Denn als nach der Bundesratswahl die Departemente verteilt wurden, blieb Cassis im EDA, offenbar weil er es wollte. Ein Insider hatte schon einen Tag vor der Bundesratswahl gegenüber watson angetönt, es dürfte keine Überraschungen geben und eine grosse Rochade ausbleiben.
An der Medienkonferenz nach dem Entscheid machte Bundespräsident Cassis keineswegs den Eindruck, zum Verbleib im Aussendepartement gezwungen worden zu sein. Dafür mag es mehrere Gründe geben, etwa den Schweizer Sitz im UNO-Sicherheitsrat in den nächsten zwei Jahren. Und in der Europapolitik scheint Cassis motivierter zu sein als auch schon.
So hiess es vor rund einem Monat, die EU-Kommission sei zu Konzessionen in den umstrittenen Punkten Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie bereit. Allzu viel kann die Schweiz nicht erwarten, da es um den freien Personenverkehr und damit ein Grundprinzip der EU geht. Der Bundesrat beschloss denn auch, vorerst die Sondierungen fortzusetzen.
Dies wurde als Misstrauensvotum gegenüber Ignazio Cassis interpretiert. Vermutlich aber war der Entscheid einfach ein Ausdruck von Ratlosigkeit angesichts der anhaltenden Blockadementalität von links und rechts. Daran konnte bislang auch das «Sounding Board» nichts ändern, mit dem der Bundesrat Gespräche mit den Sozialpartnern führt.
Der innenpolitische Widerstand war der Hauptgrund für den einseitigen Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen. Echte Bewegung hat es seither nicht gegeben. Die Gewerkschaften scheinen sich beim Lohnschutz regelrecht eingebunkert zu haben. Weshalb sich die Frage stellt, ob die Schweiz nicht andere Wege ausloten sollte.
In den letzten Wochen gab es mehrere Vorstösse und Denkanstösse in diese Richtung. Anlass war der 30. Jahrestag der Abstimmung über einen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) am 6. Dezember 1992. Das Stimmvolk sagte nach einem überaus heftigen und emotionalen Abstimmungskampf knapp Nein.
Diese Aktivitäten sind Ausdruck einer tiefen Frustration im Lager der Europafreunde über die fehlenden Fortschritte nach dem Scheitern des Rahmenabkommens. Der Bundesrat selbst goss mit dem am 9. Dezember veröffentlichten Entwurf seines neuen Europa-Berichts Öl ins Feuer. Er zeigt, dass die Landesregierung über keinen Plan B verfügt.
Nach wie vor erachtet der Bundesrat den Bilateralismus als einzigen gangbaren Weg für die Schweiz. Ein Rückfall auf den reinen Freihandel dürfte mit dem britischen Brexit-Desaster kein Thema mehr sein. Die EU aber hat klargemacht, dass die bilateralen Verträge nur eine Zukunft haben, wenn die institutionellen Fragen geklärt werden.
Kritiker argwöhnen, der Bundesrat wolle den Entscheid über neue Verhandlungen bis nach den Wahlen im Herbst 2023 aufschieben. Der erwähnte EDA-Insider wiegelte im Gespräch ab und verwies darauf, dass eine Parlamentswahl in der Schweiz im Gegensatz zu anderen Ländern nicht zu einem Regierungswechsel führt. Das garantiert Kontinuität.
Zum Problem könnte aber die Europawahl im Frühjahr 2024 werden, räumte er ein. Denn danach wird eine neue EU-Kommission in Brüssel die Arbeit aufnehmen und die Schweiz wahrscheinlich andere Ansprechpartner erhalten. Einmal mehr droht ein Neustart auf Feld eins. Doch Stillstand ist im Europadossier gleichbedeutend mit Rückschritt.
Deshalb muss die scheinbar längst abgehakte Option EWR wieder auf den Tisch. Er wäre «ein echter Befreiungsschlag, der für die nächsten Jahrzehnte den wirtschaftlichen Zugang zum Binnenmarkt sichern könnte», schreiben Nicola Forster und Andreas Schwab in ihrem Buch. Der Beitritt wäre in ihren Augen «ein selbstbewusster Schritt aus der Sackgasse».
Mit dem Selbstbewusstsein ist es im Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union aber so eine Sache. Es ist geprägt vom bekannten Schwanken zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeitskomplexen. Nach wie vor gilt für viele, was Christoph Blocher in einem Beitrag zum Buch von Forster/Schwab schreibt: «Wir passen nicht zusammen.»
Aber was ist die Alternative? Schon heute spürt die Schweiz die Folgen einer auf Eis gelegten Beziehung. So beklagen sich Wirtschaft und Hochschulen lauthals über den Ausschluss aus dem Forschungsprogramm Horizon Europe. Auch das fehlende Strom- oder Energieabkommen wird von der Branche zunehmend als Nachteil wahrgenommen.
Auch deshalb ist die von der GLP geforderte EWR-Debatte überfällig. Alles andere ist Augenwischerei und Realitätsverweigerung. Natürlich drohen bei einem EWR-Beitritt Konflikte mit der direkten Demokratie, was schon vor 30 Jahren ein grosses Thema war. Und ob der Widerstand der Gewerkschaften überwunden werden kann, ist fraglich.
Der Bundesrat erteilt der EWR-Mitgliedschaft in seinem Europa-Bericht eine Absage. Sie würde die Schweiz «in unverhältnismässiger Weise binden». Der EDA-Insider deutete immerhin die Bereitschaft an, bei künftigen Verhandlungen mit der EU einen gewissen innenpolitischen Widerstand in Kauf zu nehmen. Das wäre zumindest ein Fortschritt.
Mit seinem Verbleib im Aussendepartement hat sich Ignazio Cassis faktisch verpflichtet, für die Schweiz eine tragfähige Lösung mit der EU zu finden. Leicht wird es nicht, denn auch die Einstellung der Bevölkerung ist und bleibt widersprüchlich, wie die GFS-Studie zeigt. Man möchte mit der EU an sich nichts zu tun haben und weiss doch, dass es ohne nicht geht.
Ich hätte eine Analyse erwartet, was mit einen EWR Beitritt alles gegenüber jetzt ändert und auch eine Gegenüberstellung EWR und abgelehnte Bilaterale…
- Unionsbürgerrecht: nach 1 Jahr unbeschränkte Sozialhilfe, noch mehr Zuwanderung als jetzt schon.
- Kantonsgarantie für Kantonalbanken wäre verboten.
- Die Post-, Telekommunikations- und Energiemärkte müssten weiter liberalisiert werden. (Wir haben die tiefsten Strompreise in Europa)
- Pensionkassensystem müsste komplett umgebaut werden.
ubd das sind nur einige Beispiele…