Es war keine bittere Pille, die Schatzkanzler Jeremy Hunt der britischen Bevölkerung am Donnerstag verabreichte. Es war eine Ladung an Medikamenten, ja eine veritable Rosskur, die der Finanzminister mit seiner «Herbst-Ankündigung» im Unterhaus verschrieb. Für Hunt geht es dabei um nichts weniger als die Rettung der britischen Wirtschaft.
Die Lage ist düster. Grossbritannien befinde sich bereits in einer Rezession, sagte der Tory-Politiker. Experten erwarten, dass die Wirtschaft 2023 um 1,4 Prozent schrumpft. Die Inflation betrug zuletzt 11,1 Prozent, so viel wie seit 41 Jahren nicht mehr. In zahlreichen Branchen streiken die Beschäftigten für höhere Löhne. Auch das belastet die Konjunktur.
Der Staatshaushalt läuft ebenfalls aus dem Ruder. Mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen von insgesamt 55 Milliarden Pfund will Hunt das Budget ausgleichen, die Märkte beruhigen und die Teuerung in den Griff bekommen. Die Steuerfreibeträge etwa werden bis 2028 eingefroren, was Millionen Briten eine höhere Rechnung bescheren wird.
Letztlich muss Jeremy Hunt ausbaden, was die Regierung von Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss angerichtet hatte. Das «Mini-Budget» ihres noch kurzzeitigeren Finanzministers Kwasi Kwarteng hatte mit seiner «toxischen» Mischung aus Steuersenkungen, massiver Neuverschuldung und hoher Inflation an den Finanzmärkten für Panik gesorgt.
Das Pfund rasselte in den Keller. Die Bank of England musste den Leitzins erhöhen und Staatsanleihen aufkaufen, um Pensionskassen vor dem Kollaps zu retten. Auch nach dem Abgang von Truss und Kwarteng ist das Vertrauen erschüttert. Der neue Premier Rishi Sunak räumte ein, es gehe vor allem darum, den Erwartungen der Märkte zu entsprechen.
Ob Jeremy Hunt mit seinem Plan durchkommt, ist jedoch fraglich. Viele Konservative sehen die Steuererhöhungen, zu denen auch eine Übergewinnsteuer für Energiekonzerne gehört, äusserst kritisch. Gleichzeitig sollen die härtesten Sparmassnahmen erst ab 2025 greifen, also nach den nächsten Wahlen. Kritiker sprechen von einer Falle für die Labour-Opposition.
Sie liegt in den Umfragen deutlich vor den Tories. Das dürfte sich so schnell nicht ändern, denn auf die Bevölkerung kommen harte Zeiten zu. Die Haushaltseinkommen dürften laut offiziellen Schätzungen in den nächsten 18 Monaten um sieben Prozent schrumpfen. Hunt sprach gegenüber der BBC von «echten Herausforderungen für Familien im ganzen Land».
Dazu tragen die Steuererhöhungen und die Teuerung bei. Ausserdem möchte die Regierung den geplanten «Deckel» bei der durchschnittlichen Energierechnung pro Haushalt von 2500 auf 3000 Pfund pro Jahr anheben. Und höhere Leitzinsen bedeuten auch höhere Hypothekarzinsen für viele Hausbesitzer. Den Menschen im Königreich droht ein happiger Wohlstandsverlust.
«Die Wahrheit ist, dass wir gerade viel ärmer geworden sind», kommentierte Paul Johnson, der Direktor der Denkfabrik Institute for Fiscal Studies (IFS) die Pläne von Schatzkanzler Jeremy Hunt: «Wir befinden uns auf einer langen, harten und unerfreulichen Reise.» Eine Reihe von «wirtschaftlichen Eigentoren» habe sie noch mühsamer als nötig gemacht.
Der britischen Wirtschaft geht es generell nicht gut. Experten rechnen bis 2024 mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit von 3,6 auf 4,9 Prozent. Premierminister Sunak nennt den Ukraine-Krieg und die Corona-Pandemie als Hauptgründe für die missliche Lage. Dem widerspricht Andrew Bailey, der Chef der Bank of England, der britischen Notenbank.
Vor dem Finanzausschuss des Unterhauses verwies er am Mittwoch darauf, dass sich die britische Wirtschaft deutlich langsamer von Covid erhole als jene in der Eurozone und in den USA. Für Bailey ist der Brexit, der britische Austritt aus der Europäischen Union, ein zentraler Faktor. Er habe zu einem «anhaltenden Rückgang» der Produktivität geführt.
Swati Dhingra, Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Zentralbank, legte nach: «Es ist nicht zu leugnen, dass sich der Handel in Grossbritannien im Vergleich zum Rest der Welt viel stärker abgeschwächt hat.» Und schon vor dem drastischen Anstieg der Inflation in diesem Jahr seien infolge des Brexit die Preise gestiegen und die Löhne gesunken.
So seien die Lebensmittelpreise aufgrund der neu errichteten Handelsschranken zum Kontinent um sechs Prozent angestiegen, betonte sie: «Wir sind definitiv schwächer unterwegs als unsere Mitstreiter», so Dhingara. Noch drastischer hatte sich zuvor Michael Saunders geäussert, ein ehemaliges Mitglied des geldpolitischen Ausschusses.
The UK economy has been ‘permanently damaged by Brexit’, says former BOE policymaker Michael Saunders in an exclusive interview with @lizzzburden https://t.co/ndFxnDAt9Q pic.twitter.com/4HxC2QsLyg
— Bloomberg TV (@BloombergTV) November 14, 2022
«Die britische Wirtschaft als Ganzes wurde durch den Brexit dauerhaft beschädigt», sagte er am Montag auf Bloomberg TV. Er habe das wirtschaftliche Potenzial signifikant reduziert und die Investitionen erodieren lassen. «Hätten wir den Brexit nicht gehabt, würden wir diese Woche wohl nicht über einen Spar-Haushalt sprechen», so Saunders’ Fazit.
Damit bewahrheitet sich, wovor Brexit-Gegner gewarnt hatten. Es kann nur schiefgehen, wenn man einen gemeinsamen Markt mit 500 Millionen Menschen verlässt, ohne gleichwertige Alternativen zu besitzen. Die Britinnen und Briten scheinen das langsam zu erkennen. In neusten Umfragen sind gegen 60 Prozent für eine Rückkehr in die EU.