Eiertanz: Das war das Wort der letzten Woche. Der Bundesrat verurteilte den Angriff Russlands auf die Ukraine zwar scharf. Doch bei den Sanktionen gegenüber Putins Regime verhedderte er sich komplett. Er brachte (fast) alle Parteien und das Parlament gegen sich auf. Aus dem Ausland gab es Kritik an der Schweizer Position, die EU-Sanktionen nicht zu übernehmen, sondern lediglich dafür zu sorgen, dass diese nicht via Schweiz umgangen werden können.
Am Samstag demonstrierten 20'000 Menschen in Bern für Frieden. Den bundesratskritischen Sound dazu lieferte SP-Co-Präsident Cédric Wermuth: «Die Regierung muss endlich Rückgrat zeigen, Sanktionen verhängen. Es ist absolut verantwortungslos, dass die Regierung Milliarden russische Gelder nicht sofort einfriert.»
>> Alle aktuellen Entwicklungen im Liveticker
Der Bundesrat hat die Kritik erhört. Innert weniger Tage hat er eine erstaunliche Kehrtwende vollzogen.
Am Montag sprach Bundespräsident Ignazio Cassis Klartext. Die Schweiz übernehme die EU-Sanktionen gegen Russland vollständig. Die Vermögen von 367 gelisteten Personen werden ab sofort eingefroren. Die Finanzsanktionen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin, Premierminister Mikhail Mishustin und Aussenminister Sergei Lawrow werden mit sofortiger Wirkung vollzogen.
Der Angriff auf die Ukraine sei weder völkerrechtlich, politisch noch moralisch hinzunehmen. Jene Staaten, welche die Demokratie, Völkerrecht und Menschenrechte hochhalten, sollen sich auf die Schweiz verlassen können. So begründete Cassis den Entscheid. «Einem Aggressor in die Hände zu spielen ist nicht neutral.» Die Sanktionen sollen die russische Führung zu einem Umdenken bewegen.
Was für neue Töne. Als Cassis am letzten Donnerstag, als Russland in die Ukraine einmarschiert war, vor die Medien trat, war eigentlich nichts klar. Am Morgen hatte der Bundesrat zwar eine ausserordentliche Sitzung abgehalten, doch Anträge des federführenden Wirtschaftsdepartementes lagen keine vor. Cassis erklärte später, die Schweiz verschärfe ihre Position gegen Russland. Doch was dies genau bedeutet, darauf konnte niemand eine Antwort geben. Die Medienkonferenz endete im Fiasko.
Dem Vernehmen nach war nach Cassis' Auftritt selbst einigen Bundesräten nicht mehr klar, was die Landesregierung an ihrer Sitzung entschieden hatte. Die beiden SP-Vertreter Alain Berset und Simonetta Sommaruga seien am Donnerstag der Ansicht gewesen, man erarbeite im Hinblick auf die Sitzung vom 4. März Entscheidgrundlagen, die auf eine Übernahme der EU-Sanktionen hinauslaufen würden.
Am Freitag versuchte Cassis, die allgemeine Verwirrung zu beheben. Er stellte vor den Medien klar, dass die Schweiz eine eigenständige und differenzierte Sanktionspolitik verfolge. Die Grundaussage: Die Schweiz müsse die Kanäle offenhalten, um allenfalls eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Die Übernahme der EU-Sanktionen sei deshalb nicht opportun.
Die Schweiz beschreite weiter den Weg, den sie seit 2014 und der Annexion der Krim gegenüber Russland verfolgt. Keine Übernahme der EU-Sanktionen, sondern lediglich Massnahmen zur Verhinderung von Umgehungen. Die Handels- und Finanzströme dürfen nicht anwachsen, die Schweiz nicht als Kriegsprofiteur dastehen.
Sommaruga und Berset sahen darin eine Missachtung der Entscheide von Donnerstag. Sie intervenierten bei Cassis. Hinzu kam der internationale Druck: Die EU und verschiedene Exponenten forderten von der Schweiz die Übernahme aller Sanktionen.
Auch auf diplomatischen Kanälen wurde dem Bund bedeutet, dass ein Sonderweg diesmal nicht drin liege. Im Aussendepartement setzte ein Umdenken ein. Ausgerechnet: Zu seiner DNA gehören die Guten Dienste. Bis zuletzt hegten die Diplomaten die Hoffnung, an die Sternstunde von 2014 anknüpfen zu können.
Damals spielten Schweizer Exponenten im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eine herausragende Rolle. Zudem stellt der Bund im Kaukasus bis heute als Schutzmacht die Verbindung zwischen Russland und Georgien her – ein für die Schweizer Diplomatie wichtiges Mandat, das aus Sicht involvierter Personen wegen der vollen Übernahme der EU-Sanktionen nun von russischer Seite aufgekündigt werden könnte.
Es war also eine komplexe Güterabwägung. Doch die Hoffnungen, dass die Schweiz mit einer zurückhaltenden Sanktionspolitik gegenüber Russland nun auch im Ukraine-Konflikt eine wichtige Vermittlerrolle übernehmen könnte, schwand zusehends.
Im Gegenteil: Sie hätte mit dem Abseitsstehen zu viel an Glaubwürdigkeit bei den westlichen Partnern verloren. Die Position wurde schwierig zu erklären, nicht nur gegenüber dem Parlament, der Bevölkerung und dem Ausland. So sagte Cassis: «Die Schweiz ist auch in Zukunft bereit, aktiv zu einer Lösung beizutragen. Doch bevor ein Dialog starten kann, muss die Spirale der Gewalt gebrochen werden.»
Nicht nur das Aussendepartement bewegte sich, auch das Wirtschaftsdepartement (WBF) von Guy Parmelin legte an Tempo zu. Am Samstagabend gegen 23 Uhr schickte es Unterlagen in die Ämterkonsultation bei den anderen Departementen. Darin war die volle Übernahme der EU-Sanktionen allerdings noch nicht enthalten. Man wollte die Kontosperren der 367 Personen zwar übernehmen, Sanktionen etwa im Bereich des Handels mit Wertpapieren sollten nicht einem Verbot, sondern einer Bewilligungspflicht unterstellt werden.
Das WBF argumentierte, dass die Sanktionen so rascher übernommen werden könnten, zudem hätte der Bund eine sanktionspolitische Eigenständigkeit bewahrt. Die Konsultation dauerte bis Sonntagmittag – und Parmelins Vorschlag stiess auf Ablehnung.
Folglich schlug er am Sonntagmittag seinen Kolleginnen und Kollegen zwei Varianten vor. Erstens die volle Übernahme der EU-Sanktionen. Zweitens seine Variante aus der Ämterkonsultation. In Mitberichten machten Sommaruga, Berset und Amherd klar, dass sie die volle Übernahme wünschen. Zudem drängten sie auf sofortiges Handeln.
Am Sonntag äusserte sich dann auch Justizministerin Keller-Sutter am Rande eines Ministertreffens in Brüssel, dass die Schweiz die Massnahmen gegenüber Russland verschärfen müsse. Und Bundespräsident Cassis legte in der «Tagesschau» des Westschweizer Fernsehens nach. Der Entscheid stand fest, lange vor der Sitzung vom Montagmittag.
Beobachter sprechen von einer Praxisänderung, einem grossen Schritt. Zwar ist es die Regel, dass die Schweiz EU-Sanktionen übernimmt. Doch bietet sich die Chance zu vermitteln, erlaubt sie sich Ausnahmen. Wie bislang bei Russland. Offen ist, ob der Entscheid vom Montag eine Präjudizwirkung für spätere Konflikte hat. Und ob die Schweiz ihr Mandat im Kaukasus behalten kann.
Der Entscheid des Bundesrates stiess im Ausland auf grosses Interesse. US-Medien verschickten Push-Meldungen. Der Korrespondent der «New York Times» berichtete aus Genf, dass die Schweiz «eine bevorzugte Destination» für russische Oligarchen sei und sich Bundesbern von der «tief verwurzelten Tradition der Neutralität» abgekehrt habe. Der Nachrichtensender CNN zitierte Bundespräsident Ignazio Cassis mit den Worten, dieses Vorgehen der Schweiz sei «beispiellos».
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell sagte: «Das ist eine sehr gute Neuigkeit für uns und eine schlechte für Russland. Ich bin sehr glücklich, dass die Schweiz sich unseren Massnahmen angeschlossen hat. Ohne die Schweiz wären sie weniger effektiv gewesen, als dies nötig ist».