Christian Drosten, einer der wichtigsten Virologen in der Coronakrise Deutschlands und Institutsdirektor an der Charité in Berlin, hat am 29. April 2020 mit seinem Team eine Studie über die Ansteckungsrate von Kindern im Vergleich mit derjenigen der Erwachsenen veröffentlicht. Das Ergebnis: Kinder können genauso ansteckend sein wie Erwachsene. Daraus resultierte die Warnung an die Politik, Schulen nicht vorschnell wieder zu öffnen.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Die «Bild» veröffentlichte in ihrem Artikel scharfe Kritik an der Studie und meint, Drosten liege mit seiner wichtigsten Corona-Studie «komplett daneben». Viele Virologen, darunter auch Forscher aus seinem eigenen Team, gäben zu, bei der Studie sei unsauber gearbeitet worden. Die Kern-Kritik: Für die Studie wurden zu wenige Kinder untersucht.
Die «Bild» zitiert dafür folgende Zeugen:
Drosten wird im Artikel nicht nur wegen seiner anscheinend fehlerhaften Studie kritisiert, sondern allem voran aufgrund des daraus resultierenden Einflusses auf die Politik. Die Regierung hörte unter anderem auf den Virologen und handelt nach seinen Erkenntnissen. Ebenfalls wird Drosten unterstellt, infolge seiner Empfehlung vom 13. März, die Schulen zu schliessen, die Studie absichtlich darauf ausgerichtet zu haben, seine Empfehlung zu untermauern.
Die «Bild» fragte Drosten vor Veröffentlichung des Artikels nach einer Stellungnahme. Daraufhin postete Drosten die Anfrage auf Twitter und meinte, er habe «Besseres zu tun».
Interessant: die #Bild plant eine tendenziöse Berichterstattung über unsere Vorpublikation zu Viruslasten und bemüht dabei Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang. Ich soll innerhalb von einer Stunde Stellung nehmen. Ich habe Besseres zu tun. pic.twitter.com/fghG1rdnnq
— Christian Drosten (@c_drosten) May 25, 2020
Der «Bild»-Reporter meldet sich nach Zeitstempel um Punkt 15.00 Uhr und erwartet eine Antwort bis 16.00 Uhr – und das auf Vorwürfe, die eine umfassende und komplizierte wissenschaftliche Studie betreffen. Dass sich kein Wissenschaftler dieser Welt innerhalb von einer Stunde gegenüber solcher Kritik äussern kann, sollte offensichtlich sein. Auf Twitter wird heiss diskutiert, ob die «Bild» absichtlich solch ein kurzes Zeitfenster gesetzt hat, um danach zu sagen, Drosten habe keine Stellung bezogen.
Man achte auf den Zeitstempel der Mail: heute, 15 Uhr - Antwortfrist: heute 16 Uhr - Wer so etwas schreibt, WILL keine Antwort
— Jürgen Döschner (@jdoeschner) May 25, 2020
Nach der Veröffentlichung des Artikels schrieb Drosten weiter auf Twitter. Die interne Kritik laut «Bild»-Quellen sei eine Irreführung gewesen. Der Reporter habe den Mathematiker der Charité am Telefon in die Irre geführt und aus der Aussage, sie arbeiteten an einem Update für die Studie, eine interne Kritik gemacht.
Der Bild-Reporter hat unseren englischsprachigen Mathematiker am Telefon in die Irre geführt. Er bekam die Auskunft, dass wir grade an einem Update der Studie arbeiten, das aber das Ergebnis nicht ändert. Daraus wird dann eine interne Kritik gemacht https://t.co/w3NjKfo0Ib
— Christian Drosten (@c_drosten) May 25, 2020
Georg Streiter, ehemaliger «Bild»-Journalist und ehemaliger stellvertretender Sprecher der Bundesregierung Deutschlands, äusserte sich in einem langen Facebook-Post kritisch gegenüber der «Bild». Die Schlagzeile «Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht – Kollegen von Star-Virologe Prof. Drosten räumen Fehler ein» sei durch nichts belegt. Die scharfe Kritik an den Verfasser des Artikels, Filipp Piatov, zeigt sich im folgenden Zitat:
Piatov ist im Impressum der «Bild» als Ressortleiter für «Meinung» ausgewiesen. Er habe also nichts mit Wissenschaft am Hut. In einem Interview über den Artikel, geführt von einer anderen «Bild»-Reporterin, äusserte sich Piatov über den Vorwurf: «Das ist keine ‹Bild›-Kritik an der Arbeit von Drosten. Wir sind kein virologisches Institut. Wir sind keine Experten für Statistik. [...] Die Kritik kommt von Experten, die sich unabhängig voneinander mit den Ergebnissen und Methoden der Studie befasst haben.»
Verwundert es eigentlich sonst Niemanden, das ein "Journalist" aus dem Ressort "POLITIK" sich der Theamtik annimmt? Wieso Keiner aus dem Ressort "Wissenschaft oder Medizin"? Ach, wir reden von der Bild, da gibt es sowas nicht. Demnächst stellt Jmd vom Ressort Sport die Anfrage.
— Andreas Maximus (@andpc107) May 25, 2020
Dominik Liebl etwa distanziert sich vom «Bild»-Artikel. Er möchte nicht in Verbindung mit den Methoden der «Bild» gesetzt werden und bedankt sich gleich bei Drosten für dessen Arbeit. «Sie haben Leben gerettet!», tweetet er.
Ich wusste nichts von der Anfrage der BILD und distanziere mich von dieser Art Menschen unter Druck zu setzen auf das schärfste. Wir können uns mehr glücklich schätzen @c_drosten und sein Team im Wissenschaftsstandort Deutschland zu haben. They saved lifes!
— Dominik Liebl (@domliebl) May 25, 2020
1/n
Alle Altersgruppen (auch Kinder) müssen wohl trotzdem als infektiös eingestuft werden. Auch wenn es Unterschiede zwischen den Altersgruppen gibt.
— Dominik Liebl (@domliebl) May 25, 2020
3/n END
Leonhard Held, ebenfalls zitierter Kronzeuge der «Bild», sei nie von der Boulevardpresse interviewt und seine Aussage aus dem Kontext gerissen worden.
On media coverage of Drosten study:
— Leonhard Held (@HeldLeonhard) May 26, 2020
1) I was never interviewed by Bild and I am distancing from Bild's approach in its story
2) No reason to change conclusion of my own analysis https://t.co/NPNmmNsR7O
3) New review of the study by @kjm2 and @d_spiegel https://t.co/IjFIVBuFpk
Auch Professor Stoye, der «Kronzeuge» mit der kritischsten Stimme, distanziert sich von der Berichterstattung. In einem Interview mit «Spiegel» gab er an, seine Intention sei nie gewesen, die Studie von Drosten als «grob falsch» und seine Methoden als «fragwürdig» anzuprangern. Drosten sei ein Gigant der Virologie. «Als ich von dem ‹Bild›-Artikel erfahren habe, habe ich ihm gleich eine E-Mail geschrieben, wie unangenehm mir das ist», sagt er.
Er habe einen Aufsatz auf Englisch verfasst und dabei die Drosten-Studie kritisiert. Die Studie von Drosten kam zum Schluss, dass die getesteten Kinder nur zufälligerweise weniger Viren in sich getragen hätten als Erwachsene – Stoye ist aber der Meinung, es gebe ein Muster. Da seien sie verschiedener Meinung.
Ein weiterer Vorwurf lautete, «die Ergebnisse seien von den Entscheidungen der Forscher getrieben worden». Sein Fazit: «Andere Verfahren hätten möglicherweise zu anderen Ergebnissen geführt. Natürlich hätte es auch andere Methoden gegeben. In der Wissenschaft gibt es nicht immer die eine richtige Methode.»
Piatov selbst tweetete nach der Distanzierung der Kritiker, dass das nichts an der Berichterstattung und der Kritik an sich ändert – und der Artikel somit weiterhin glaubwürdig sei.
Die „angeblichen Kritiker“ distanzieren sich von der BILD – das ist ihr gutes Recht. Aber sie bleiben bei ihrer Kritik an der Studie. Diese öffentlich geäußerte Kritik haben wir zitiert. https://t.co/m6GY297fTY
— Filipp Piatov (@fpiatov) May 25, 2020
"Lass die Leute reden und lächle einfach mild
Die meisten Leute haben ihre Bildung aus der Bild"
Da geht es immer um eine Agenda und es werden keine Gefangenen gemacht.