In den USA werden hyperempfindliche Menschen auch «Snowflakes» genannt, wahrscheinlich weil sie bei der geringsten Erwärmung sofort einbrechen. Snowflakes sind an Universitäten weit verbreitet. Sie weigern sich, Vorlesungen über Themen zu besuchen, die sie erschrecken, und halten ihnen nicht genehme Referenten vom Universitäts-Campus fern.
Die Diskussionen um den Sommerhit 079 und die Basler-Scharade um die Guggenmusik Negro-Rhygass zeigen, dass das Snowflake-Phänomen auch die Schweiz erreicht hat. Auch dass wir uns darüber streiten, ob man einen Mohrenkopf noch Mohrenkopf nennen darf, gehört in dieses Kapitel.
Nun könnte man sagen: Glücklich ein Volk, das sich mit Problemen dieser Art herumplagen kann. Stimmt leider nicht. Die vermeintlich läppischen Streitereien sind Ausfluss der sogenannten Identitätspolitik. Sie hat in der modernen Gesellschaft den Klassenkampf ersetzt – und das hat Folgen.
Aufklärung und Industrialisierung haben uns nicht nur Demokratie und Rechtsstaat beschert, sondern auch den Klassenkampf. «Die Politik war während beinahe des gesamten 20. Jahrhunderts geprägt von wirtschaftlichen Themen», schreibt Francis Fukuyama in einem Essay im Magazin «Foreign Affairs». «Heute hingegen ist sie weniger von ökonomischen oder ideologischen Sorgen bestimmt, als von Fragen der Identität.»
Die zentrale Aussage von Karl Marx, wonach das Bewusstsein des Menschen primär von seinem wirtschaftlichen Sein bestimmt wird, ist unvollständig. Menschen streben auch nach Würde und Respekt. Wird ihnen dies verweigert, dann reagieren sie heftig, vor allem dann, wenn ihnen gleichzeitig ein wirtschaftlicher Abstieg droht. Das ist gegenwärtig bei weiten Teilen des westlichen Mittelstandes der Fall.
Klassenkampf ist in der modernen Gesellschaft kein taugliches Mittel mehr. Der Kommunismus ist diskreditiert, die klassischen Arbeiter sind zu einer aussterbenden Rasse geworden, die Grenzen des Sozialstaates sind ausgereizt, und in der Gig-Wirtschaft lassen sich Arbeitnehmer schlecht organisieren.
Den Linksparteien wurden so allmählich ihre zentralen Themen geraubt. Im Gegenzug haben sie die Minderheiten entdeckt. Kampf gegen Rassismus und sexuelle Diskriminierung und Einsatz für Migranten wurden zu Kernthemen der Linken.
Wer für die Rechte von Frauen und Minderheiten kämpft, hat zwei Optionen: Er kann verlangen, dass sie gleich behandelt werden wie die anderen, oder er kann verlangen, dass die Eigenheiten einer anderen Identität respektiert werden. In der jüngsten Vergangenheit setzt sich vermehrt die zweite Option durch.
Fukuyama nennt als Beispiel die Entwicklung des Feminismus: «Die Forderungen der Mainstream-Bewegung konzentrierten sich zunächst auf die gleiche Behandlung der Frauen am Arbeitsplatz, in der Erziehung, vor Gericht, usw. Gleichzeitig gab es jedoch auch einen wichtigen Trend in der feministischen Bewegung, der das spezifische Bewusstsein und die Lebenserfahrung der Frauen betont, die grundsätzlich verschieden sind von männlichen.»
Grundsätzlich ist am Einsatz gegen Rassismus und für Feminismus nichts auszusetzen. Auch heute noch werden Farbige diskriminiert und Frauen am Arbeitsplatz belästigt, wie die #metoo-Bewegung gezeigt hat. Mit der Betonung der Identität haben die Linken jedoch ungewollt den Rechten einen Steilpass gespielt. «Vielleicht das Schlimmste an der aktuellen Identitätspolitik der Linken ist die Tatsache, dass sie den Aufstieg einer Identitätspolitik von rechts begünstigt hat», stellt Fukuyama fest.
Die rechte Identitätspolitik dreht sich um Rasse und Nationalität, verbunden mit der Angst vor einem sozialen Abstieg. «Wir wollen unser Land zurück» und «Wir sind das Volk» sind Parolen, die auf fruchtbaren Boden fallen. Die Rechten nutzen auch die Hyperempfindlichkeit der linken Snowflakes aus. Die Grenze des Anstands zu verletzen und sich keinen Deut um die politische Korrektheit zu kümmern, wird zu einer Tugend und zu einem politischen Erfolgsrezept. Das hat Donald Trump beispielhaft vorexerziert. Seine Vulgarität wird von seinen Anhängern als Authentizität verstanden und gepriesen.
Geschickt spannt die Rechte das Verlangen nach Respekt für ihre Zwecke ein. Der weisse Mittelstand sei das wahre Opfer und seine Anliegen würden von einer abgehobenen Elite nicht mehr wahrgenommen, argumentieren sie und können damit punkten: Mit dieser Botschaft wurde Trump ins Weisse Haus und das Vereinigte Königreich aus der EU gehievt.
Eine reine Multikulti-Gesellschaft wird gemäss Fukuyama niemals überleben. Er plädiert deshalb für eine Leitkultur, welche Identität verspricht, ohne gleichzeitig andere auszuschliessen und zu unterdrücken. «Eine funktionsfähige nationale Identität muss substanzielle Ideen enthalten, eine Verfassung, Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit der Menschen», so Fukuyama.
Eine solche Gesellschaft darf, ja muss auch ihre Grenzen schützen. «Die internationalen Gesetze stellen nicht in Frage, dass Staaten ein Recht darauf haben, ihre Grenzen zu kontrollieren und Kriterien für die Einbürgerung festzulegen», so Fukuyama. Diese Kriterien sollen jedoch nicht durch das «Blut», sondern durch den «Boden» bestimmt sein. Will heissen: Wer in einem bestimmten Land geboren und aufgewachsen ist, soll dort auch als Bürger aufgenommen werden.
Kurz zusammengefasst lautet Fukuyamas Botschaft wie folgt: Ohne Leitkultur verkommt die Identitätspolitik zu einem wehleidigen Jammern einzelner Gruppen gegeneinander und zu einer zunehmenden Radikalisierung. Und ohne sichere Grenzen werden die Rechten mit ihrer Identitätspolitik triumphieren.