Zlatan Ibrahimovic sagte einst, er sei ein Ferrari und wurde von Pep Guardiola gefahren wie ein Fiat. Selbsterklärend, dass in Ibrahimovics Metapher die Bezeichnung «Fiat» despektierlich gemeint war für ein schwaches Auto ohne viel Power.
Dass man gar keine PS-starke Maschine sein muss, um im Weltfussball zu bestehen, beweist Italiens Jorginho. Er ist der Cinquecento zwischen all den Ferraris. Schliesslich ist er nicht sonderlich schnell, seine Bewegungen sind nicht sehr dynamisch und er wirkt neben den anderen Spielern auf dem Platz wie der spindeldürre Junior, der bei den Aktiven aushilft. Und dennoch ist dieser Jorginho aus Italiens Nationalmannschaft nicht mehr wegzudenken – er gilt sogar als einziger Spieler im Team von Roberto Mancini als unantastbar, was seinen Status als Stammspieler angeht.
Als «Il nuovo Maestro», in Anlehnung an Andrea Pirlo, wurde der 29-jährige Italiener von der «Gazzetta dello Sport» bereits bezeichnet. Dass die rosarote Sportbibel Parallelen zu Pirlo sieht, liegt auf der Hand, schliesslich bekleidete dieser in der Squadra Azzurra die gleiche Position als «Regista», als tief stehender Spielmacher. Und auch Pirlo lebte nicht von seiner Physis, sondern von seinem Kopf. Seine Biografie trägt den Namen «Ich denke, also spiele ich».
Wenn einst die Lebensgeschichte des Jorginho als Buch erscheint, könnte sie den Titel «Ich denke auch, also spiele ich auch» tragen. Denn der 29-Jährige profitiert wie Pirlo davon, dass er nicht mit den Beinen der Schnellste ist, sondern mit dem Kopf. Und dennoch: Jorginho ist keine Kopie von Pirlo, er sucht weniger oft die vertikalen Pässe, sondern entscheidet sich im Zweifelsfall für den Querpass. 391 Pässe hat er an der EM bereits gespielt, 371 davon sind beim Mitspieler angekommen, was die überragende Passgenauigkeit von 95,2 % ergibt. Als Architekt des Minimalismus wurde Jorginho kürzlich von der «Südeutschen Zeitung» bezeichnet.
Das klingt ziemlich harsch, aber so ist das halt als unauffälliges Hirn der Mannschaft, doch Jorginhos Spiel ist äusserst effizient. Er spielt zwar viele horizontale Pässe, allerdings um dadurch Lücken für seine offensiveren Teamkollegen zu schaffen. Ergibt sich für Jorginho selbst die Lücke, um zwischen die Linien zu spielen, tut er das – aber eben nicht mit dem letzten Risiko.
Das Fussball-Analyseportal «The Coaches' voice» kommt zum Schluss, dass Jorginho nicht nur ein Meister des Kurzpassspiels ist, sondern auch äusserst pressingresistent. Das heisst, in einer heiklen Situation, in welcher der Gegner hochsteht und Druck macht, kannst du den Ball zu Jorginho spielen. Er wird den Ball so weiterverarbeiten, dass sein nächster Mitspieler mehr Zeit und eine bessere Position vorfindet, um etwas Produktives anzustellen.
Ein «Signature Move» von Jorginho ist seine Ballannahme unter Druck. Oftmals nimmt er den Ball mit dem ballentfernten Fuss an und lässt den Gegenspieler so ins Leere laufen. Danach kann sich Jorginho jeweils mit viel Platz nach vorne orientieren.
Jorginho kontrolliert das Tempo des Spiels, holt die Bälle gerne tief und fungiert dann als Bindeglied zwischen Defensive und Offensive. Jorginho sammelt selten Assists, in den Abschluss geht er sowieso kaum. An der EM kommt der defensive Mittelfeldspieler auf keinen Torschuss – als einziger italienischer Stammspieler neben Torhüter Gianluigi Donnarumma.
Jorginho hat nicht die Ausstrahlung, die Aura eines Andrea Pirlo, der Zuschauer bemerkt ihn deshalb kaum. Zu unspektakulär ist seine Spielweise. Seine Laufwege, speziell auch in der Defensive, werden von den TV-Kameras zu selten eingefangen, um seine Qualitäten zu erkennen. Dass er tatsächlich viel läuft, belegen die Statistiken. Auf 57,7 Kilometer kommt er in fünf EM-Spielen. Nur der Tscheche Tomas Soucek (57,8 km) und der Spanier Pedri (61,5 km) kommen auf mehr.
Eine weitere grosse Qualität von Jorginho ist seine Intuition. Er antizipiert das Spiel des Gegners, sieht den nächsten Ball voraus. Kurz gesagt: Jorginho weiss, wohin der Gegner als Nächstes spielt, bevor es dieser selbst weiss. Der Italiener kommt an der EM bereits auf 13 abgefangene Pässe, mehr hat nur sein kongenialer Chelsea-Partner N'Golo Kanté (14), was zugleich auch das solide Fundament des Champions-League-Gewinns der Londoner erklärt. Dazu kommt er gemäss «The Analyst» auf 35 «Recoverys», sogenannte «zweite Bälle», die er sich erobert. In dieser Sparte liegt er in den EM-Statistiken auf Rang 3.
Eine weitere, etwas tiefer gehende Statistik zeigt sowohl die Spielweise, als auch die Stärke von Jorginho auf. Der Mittelfeldspieler hat zwar nur 6 Chancen vorbereitet, war aber an 31 Angriffen der Italiener beteiligt, die mit einem Torschuss geendet haben. Kurz gesagt: Der Mittelfeldmotor spielt nicht den letzten Pass, dafür den zweit-, dritt- oder viertletzten. Wie ein Schachspieler ist er allen anderen ein paar Schritte voraus.
Seine Fähigkeit, das Spiel zu lesen, nutzt Jorginho nicht nur für sich. Weil er so viel redet oder meist sogar brüllt, trägt er den Spitznamen «Radio Jorginho». Die italienische Tageszeitung «La Repubblica» zitierte ihn nach dem EM-Eröffnungsspiel gegen die Türkei wie folgt: «Das ist etwas, was bei mir ganz natürlich kommt. Kommunikation während des Spiels ist sehr wichtig, ich sehe Dinge und versuche die Informationen an alle weiterzugeben. In meiner Rolle ist das grundlegend. Tatsächlich habe ich am Ende des Spiels keine Stimme mehr, es ist Teil des Spiels. Mein Ziel ist es, allen zu helfen.»
Spektakel, das gibt es bei Jorginho höchstens bei den Penaltys, bei denen er während des Anlaufs jeweils einen kleinen Hüpfer macht, den Torhüter in die eine Ecke springen lässt, bevor er den Ball butterweich in die andere Ecke schiebt. Jorginho schiesst seine Penaltys aber nicht des Spektakels Willen oder um den Gegner zu verhöhnen auf diese Weise, sondern – wie alles, was er auf dem Feld macht – wegen der Effizienz. Er hat in seiner Karriere 33 Penaltys geschossen und 29 davon verwandelt.
Jorginho, das hört man schon an seinem Namen, ist kein gebürtiger Italiener. Auf die Welt kam er 1991 als Jorge Luiz Frello Filho in Brasilien, in der kleinen Hafenstadt Imbituba, die zum Bundesstaat Santa Caterina gehört. In Imbituba leben verschiedene Einwanderer-Familien mit Wurzeln aus Portugal, Deutschland und Italien.
Weit entfernt hat auch Jorginho italienische Vorfahren. Irgendwo in der Provinz Vicenza lebte ein Urururgrossvater von ihm. Jorginho hat nicht nur seiner weit entfernten Vorfahren wegen einen engen Bezug zu Italien. Bereits mit 15 Jahren zog er alleine von Brasilien nach Italien, weil ihn ein italienischer Unternehmer dem damaligen Sportdirektor von Hellas Verona (damals in der drittklassigen Serie C) empfohlen hatte.
Jorginho war weit weg von zu Hause, lebte in einem Kloster der Stadt, einen Vertrag hatte er vorerst keinen. Je nach Quelle musste er mit 20 oder 50 Euro pro Woche durchkommen – wenig war es auf jeden Fall. Zudem vermisste Jorginho seine Mutter, gab sein wenig Geld, dass er hatte, dafür aus, um mit der Familie zu telefonieren. Er wollte nach Hause, doch seine Mutter Maria Teresa, deren Traum er lebte, sagte: «Bleib dort!»
Dass ihn die Mutter so gepusht – man könnte auch sagen gedrängt – hat, den Weg als Profifussballer einzuschlagen, schätzt Jorginho, dessen Vater die Familie verliess, als der kleine Jorge 6 Jahre alt war, heute ausserordentlich: «Dass ich heute Fussballer bin, verdanke ich ganz meiner Mutter.» Die Mama war früher selbst Amateur-Fussballerin, schaffte den Sprung ins Profigeschäft aber nie. Das sollte ihr Sohn unbedingt nachholen. Schon als Kind gab es für den italienischen Nationalspieler täglich Trainings am Strand. Bereits mit 13 verliess er seine Heimatstadt Imbituba. Er kam bei einem Verein aus einer Stadt, die rund 180 Kilometer entfernt lag, unter Vertrag. Zwei Jahre später begann sein Abenteuer in Italien.
Mit seiner Statur hatte es Jorginho in den Nachwuchsabteilungen schwer, er war zwar schon damals technisch versiert, aber eben auch dünn und dadurch physisch unterlegen. Jorginho blieb hartnäckig, durchlief sämtliche Jugendstufen bei Hellas Verona. 2010 schaffte er den Sprung ins Profikader, wurde aber vorerst zur AC Sambonifacese, einem lokalen Viertligisten, verliehen, ehe ihm der Durchbruch in Verona eine Saison später glückte. Es folgte der Aufstieg mit Hellas in die Serie A, im Januar 2014 der Wechsel zur SSC Neapel.
Bei Napoli tat sich Jorginho unter Rafael Benitez schwer, der Trainerwechsel zu Maurizio Sarri im Sommer 2015 war sein grosses Glück. Denn Sarri erkannte das immense Potenzial des Mittelfeldspielers: «Er hat etwas Besonderes, einen besonderen Blick für den Raum, er sieht mehr als die anderen», sagte Sarri damals über Jorginho. Ein Journalist des italienischen Ablegers von «goal.com» schrieb über die ersten Spiele von Jorginho unter Maurizio Sarri: «Er spielt so begeistert wie ein Kind, welches zum ersten Mal im Vergnügungspark ist.»
Das Talent von Jorginho blieb, im Gegensatz zu den Brasilianern, den Italienern nicht verborgen. Und wie das in solchen Fällen so ist: Die Einbürgerung ging ohne grössere bürokratische Hürden voran. Jorginho erhielt 2012 den italienischen Pass und sagte dazu: «Bitte nennt mich nicht Giorgio.» 2016 gab Jorginho dann mit 24 Jahren unter Antonio Conte sein Nationalmannschaftsdebüt, seit 2017 ist er Stammspieler.
Jorginho und Sarri profitierten so stark voneinander, dass sie Napoli beinahe zum Meistertitel führten und 2018 zusammen in die Premier League zu Chelsea wechselten. Für Jorginho zahlen die Londoner rund 57 Millionen Euro. Wie wichtig Mutter Maria Teresa der ganz grosse Durchbruch ihres Sprösslings war, zeigt ein Video, welches 2018 viral ging. Als Jorginho 2018, nachdem er bei Chelsea unterschrieben hatte, mit seiner Mutter durch den Fanshop lief, kamen ihr die Tränen, als sie ein T-Shirt mit dem Namen ihres Sohnes entdeckte.
Doch bei Chelsea war man (noch) nicht bereit für Jorginho. Die Verantwortlichen waren enttäuscht, dass der Mittelfeldstratege in seiner ersten Saison in 54 Spielen auf keinen einzigen Assist kam. Jorginho war massiver Kritik ausgesetzt, die Fans pfiffen ihn aus – sie hatten schlicht und einfach seine Spielweise nicht verstanden. Trotz des Gewinns der Europa League musste Maurizio Sarri nach nur einer Saison gehen – unter dessen Nachfolger Frank Lampard war Jorginho dann nicht immer gesetzt. Als im Januar aber Taktik-Freak Thomas Tuchel an der Stamford Bridge übernahm, konnte er sich wieder so richtig entfalten. «Er versteht meine Charakteristiken», sagt Jorginho, der mit seiner taktischen Intelligenz der Inbegriff des verlängerten Arms des Trainers ist, über Tuchel. Zusammen haben sie Ende Mai die Champions League gewonnen. Wie in der Squadra Azzurra war der Mittelfeldstratege unverzichtbar, die Schlagzeilen aber gehörten N'Golo Kanté, Kai Havertz oder Mason Mount.
An der Europameisterschaft steht Jorginho mit Italien im Finale. Es fehlt ihm also nur noch ein Sieg, um nach der Champions League auch noch die Europameisterschaft zu gewinnen – er wäre dann, zumindest wenn es nach italienischen Journalisten geht, ein Kandidat als Weltfussballer des Jahres. Gar nicht schlecht für einen Cinquecento.
Und man erkennt auch gleich wieder, warum es so ein immenser Fehler von Leicester City war, nach dem Meistertitel Kanté als "verzichtbar" zu taxieren und zu verkaufen. Solche Spieler werden auch heute noch zu oft viel zu wenig geschätzt.