Es ist dieser eine Moment, wenn die grössten Stadien der Welt plötzlich verstummen, wenn das Millionenbusiness Fussball auf wenige Sekunden reduziert wird. Es ist dieser magische Moment, wenn Andrea Pirlo am Ball ist. Der 38-Jährige mit dem ausdruckslosen Gesicht und dem wuchernden Vollbart, er könnte ein Mosaik aus Chuck Norris und Jesus Christus sein.
Andrea Pirlo ist ein Mann, der scheinbar ununterbrochen vor sich hin rechnet, die Räume und Winkel misst. Noch bevor der Ball an seinen Füssen ist, hat er das Loch im gegnerischen Defensivbund bereits gefunden, dort wird er Sekunden später den Ball millimetergenau hin spielen.
Andrea Pirlo gehört zu einer aussterbenden Spielergeneration der Denker. Ein Pythagoras statt eines Herkules. Doch auch für einen Denker, der immer von seinem brillanten Kopf und nicht von seiner starken Physis lebte, ist irgendwann genug. Ende Jahr wird Andrea Pirlo zurücktreten. «Du kannst nicht weiterspielen, bis du 50 bist. Wenn du jeden Tag physische Probleme hast, kannst du nicht trainieren», sagte Pirlo gegenüber der italienischen Sportbibel «Gazzetta dello Sport».
Der Titel seiner Biografie «Ich denke, also spiele ich», sagt eigentlich schon alles über den Fussballphilosophen aus. Darin gewährt Andrea Pirlo tiefe Einblicke in seine Jugendzeit aber auch in seine Ängste.
Bereits früh wurde das Talent des Ausnahmekönners entdeckt. Der spätere Nationalcoach und damalige Atalanta-Jugendtrainer Cesare Prandelli hätte Pirlo nur so gern von dem konkurrierenden Brescia in seine U15 geholt – der eigene Präsident Percassi verhinderte es, weil Pirlo zu gut war. Der Transfer eines solchen Spielers hätte zu einer diplomatischen Krise der beiden Vereine geführt.
«Pirlo bleibt wo er ist. Einen solchen Kerl bringt man nicht in Schwierigkeiten. Er muss frisch und munter weiterspielen und sich amüsieren. Ich will nicht, dass irgendjemand Druck auf ihn ausübt. Er muss der Spieler Aller bleiben», beschrieb Percassi damals. Er hatte das Phänomen Andrea Pirlo schon früh verstanden.
Andrea Pirlo war trotz oder gerade wegen der Brillanz, die er auf das Feld brachte, in seiner Jugendmannschaft unbeliebt. Zu viele Teamkameraden hatten Angst, im Schatten des Maestros zu stehen und sahen ihre eigene Profikarriere in Gefahr. Es kam soweit, dass sie sich weigerten, Pirlo an den Spielen den Ball zuzuspielen. Er schreibt dazu in seinem Buch:
Mit 17 Jahren folgte der definitive Schritt in die erste Mannschaft von Brescia. Der damalige Trainer Mircea Lucescu (heute türkische Nationalmannschaft) förderte ihn und sagte, er solle einfach so spielen wie in der U17. Wieder eckte Pirlo an – vor allem bei den älteren Spielen. Er fühlte sich falsch verstanden.
Als ersten Erfolg beschreibt Pirlo den Moment, als die Tritte seiner Mannschaftskollegen irgendwann weniger waren, als die Zahl der Bälle, die sie ihm überliessen. Es sollte sich noch ganz wenden und Pirlo wurde zu einem der erfolgreichsten italienischen Fussballer aller Zeiten.
Andrea Pirlo wurde mit Italien 2006 Weltmeister. Es war die Blütezeit des «Architekten». Besonders mit Druck scheint Pirlo gut umgehen zu können. Er konnte es in der 119. Minute des Halbfinales gegen Deutschland, als er Fabio Grosso überragend assistiere und er konnte es im Elfmeterschiessen im Finale.
Pirlo wurde in die Mannschaft des Turniers und in drei Partien (darunter im Halbfinal und im Endspiel) zum besten Spieler gekürt. Das lockte Real Madrid auf den Plan – einen seiner Traumvereine.
Damals, so sagt es Pirlo heute, habe er nicht mehr für Milan gespielt, sondern für Real Madrid. Im Kopf, im Herzen, in der Seele. Und mit einem Fünfjahresvertrag in der Tasche, der unterschriftsreif war. Sowie einem Salär jenseits von Gut und Böse.
Doch Milan-Präsident Galliani liess Pirlo nicht gehen. Und er löste das Problem auf seine Art und Weise. «Du gehst nicht weg, weil du vorher das hier unterschreibst. Die Laufzeit beträgt fünf Jahre, Summe steht keine drin, die kannst du selber einsetzen ...»
Der Transfer war geplatzt, obwohl Pirlo so gerne gewechselt wäre: «Es besitzt einfach mehr Zauber als Milan, eine strahlendere Zukunft und viel mehr Sex-Appeal.» Ende Saison ist es Pirlo dennoch gelungen sich zu trösten – er hat mit Milan die Champions League gewonnen.
Obwohl Pirlo die Champions League zwei Mal gewonnen hat, verbindet er nicht nur schöne Erinnerungen mit der Königsklasse. Nach dem verlorenen Champions-League-Final 2005 gegen Liverpool dachte Pirlo sogar ans aufhören: «Es erschien mir alles sinnlos.»
Milan verspielte damals einen 3:0-Vorsprung und verlor anschliessend im Elfmeterschiessen. Das hat den unglaublich ehrgeizigen Perfektionisten Pirlo fertig gemacht.
Auch als Pirlo mit Milan zwei Jahre später die Champions League nochmals gewann, reichte das nicht: «Wir sind 2007 wieder aufgestanden. Und doch war die Freude nicht halb so gross wie das Entsetzen, das uns damals so gelähmt hatte. Wir haben gejubelt, aber wir konnten nicht vergessen. Wir hätten es gewollt, doch wir waren dazu nicht fähig.»
Andrea Pirlo ist vielen vor allem als eines bekannt: Als ausgezeichneter Freistossschütze. In Italien nennt man die Freistosstechnik, den Ball mit dem ganz speziellen Effet zu schiessen, sogar «alla Pirlo». Dabei ist er gar kein Original. Pirlo ist ein perfekter Nachahmer des Brasilianers Juninho (2001-2009 bei Lyon).
Über Wochen versuchte Pirlo, die Technik zu erlernen, ohne Erfolg. Die Suche nach dem Schlüssel zu Juninhos Geheimnis war zur Besessenheit geworden. Doch dann kam die Erleuchtung: Es hatte nichts damit zu tun, wo man den Ball traf, sondern wie. Juninho trat ihn nicht mit dem ganzen Fuss, sondern nur mit drei Zehen.
Womit sich Pirlo nie anfreunden konnte, ist das Aufwärmen vor dem Spiel. «Das hasse ich aus tiefster Seele. Fünfzehn Minuten reine Zeitverschwendung, in denen ich gewöhnlich mit meinen Gedanken ganz woanders bin. Meist mach ich nur ein paar Schritte als kleinen Protest gegen diesen fürchterlichen Unsinn.»
Ganze drei Seiten seiner Biografie hat Pirlo der Antipathie zum Aufwärmen gewidmet: «Ich habe überhaupt keine Lust zu joggen, um meine Muskeln aufzuwärmen. Worauf es ankommt ist schliesslich das Herz. Und das glüht bei mir sowieso.» Er zähle die Minuten immer hübsch nach unten und sage sich dabei vor, dass die Tortur bald vorbei sei. Möglicherweise leide er ja an einer Phobie:
Lange muss sich Pirlo nicht mehr über das Aufwärmen enervieren. Dann, wenn seine grossartige Karriere im Dezember zu Ende gehen wird. Wenn einer dieser Spieler zurückgetreten ist, bei dem es sich lohnt, die eine oder andere Träne nachzuweinen.
Dieses Portrait haben wir in ähnlicher Form bereits vor zweieinhalb Jahren geschrieben und nun überarbeitet erneut publiziert.