«Das Ungeheure, das Unfassbare in der Menschheit ist geschehen: Der Pol der Erde, seit Jahrtausenden unbeseelt, seit Jahrtausenden, und vielleicht seit allem Anbeginn ungeschaut vom irdischen Blick, ist in einem Molekül Zeit, ist innerhalb von fünfunddreissig Tagen zweimal entdeckt worden. Und sie sind die Zweiten – um einen einzigen Monat von Millionen Monaten zu spät –, die Zweiten in einer Menschheit, für die der Erste alles ist und der Zweite nichts.»
Stefan Zweig, «Sternstunden der Menschheit», 1927
Captain Falcon Scott hatte das Wettrennen zum Südpol verloren – sein norwegischer Rivale Roald Amundsen erreichte diesen gottvergessenen Ort bereits am 14. Dezember 1911. Und doch ist es nicht der Gewinner, an den sich die Nachwelt gern erinnert. Es ist jener Zweite, dieser strebsame und aufopfernde Brite, der sein Vaterland stolz machen wollte. Sein trauriges Schicksal vermag das Herz zu rühren, nicht aber unbedingt Amundsens Leistung, die zwar sehr beachtlich, aber nicht ganz ehrlich erbracht worden war.
Denn als der Norweger im Juni 1910 mit seinem Schiff den Hafen in Oslo verliess, machte er sich nicht wie angekündigt zum Nordpol auf, sondern steuerte mitsamt seinen verblüfften Männern die Antarktis an. Der Amerikaner Robert Peary hatte behauptet, den Nordpol bereits erreicht zu haben, und so wandte sich Amundsen der jenseitigen und noch von Menschen unberührten Polkappe zu – er hatte Schulden, er brauchte dringend einen Erfolg.
Selbst wenn das hiess, gegen den ungeschriebenen Ehrenkodex der Polarforscher zu verstossen und zum Schrecken von Scotts Männern plötzlich in der Bucht der Wale aufzutauchen. Als Scott vom Lager seines Rivalen erfährt, schreibt er in sein Tagebuch:
«Zweifellos ist Amundsens Erscheinen für meine Pläne eine ernstliche Störung. Sein Abstand vom Pol ist 110 Kilometer kürzer als der meinige und ich hätte nie gedacht, dass er so viele Hunde sicher auf die Eisbarriere hätte bringen können. Sein Plan, mit ihnen zu fahren, scheint ausgezeichnet; vor allem kann er seine Reise schon früh im Jahr antreten, was mit Ponys unmöglich ist. Aber gleichviel: Ich darf mich durch Amundsens Vorgehen nicht beirren lassen und bleibe bei meinem ursprünglichen Plan, als wenn ich nichts von Amundsen wüsste. Vorwärts also ohne Zaudern und Furcht, und die beste Kraft eingesetzt zur Ehre meines Landes!»
Scotts 19 mandschurische Ponys hatten auf der Fahrt in die Antarktis sehr gelitten. Zwei davon starben und zwei seiner 33 sibirischen Hunde fegte der Sturm einfach vom Deck der Terra Nova. Das Schiff geriet in ein tobendes Unwetter, das die Proviantkisten gefährlich hin und her schleuderte.
Das Wasser drang bis in den Maschinenraum und die Männer mussten es mit Eimern mühselig wieder hinausschaffen. Manche von ihnen arbeiteten nackt, das war besser als die schwer gewordenen nassen Kleider am Leib kleben zu haben.
Es folgten zwanzig lange Tage Gefangenschaft im Packeis des Ross-Meeres. Immerhin gab dies dem Expeditions-Fotografen Herbert Ponting die Möglichkeit, wundervolle Fotos zu schiessen.
Dann endlich kann die Terra Nova auf der Ross-Insel anlegen. Die Ausschiffung übernimmt der Royal-Navy-Offizier Victor Campbell – doch als der grösste der drei Motorschlitten auf dem Eis steht, bricht er plötzlich ein. Die Matrosen halten das Tau fest, an dem er auf seinem Weg zum Meeresgrund baumelt, doch es reisst rasend schnell eine Schneise durchs Eis und zwingt die Männer einer nach dem anderen loszulassen.
Der Verlust schmerzte Scott sehr, auch wenn er die Motorschlitten nicht als lebensnotwendig in seine Reise eingeplant hatte. Er traute ihnen von Anfang nicht. Genauso wenig wie den Hunden, über deren «Demoralisierung» er sich bereits am ersten Tag der Ankunft zünftig aufregen muss:
«Schuld daran waren die masslos dummen Pinguine, die in Scharen auf unser Eisfeld losschossen. Mit dem Kopf in der Luft hin und her stossend, watschelten sie heran, voll verzehrender Neugier und stumpfsinniger Gleichgültigkeit gegen die heulenden Hunde, die an ihren Leinen zerrten und zu ihnen hinstrebten.»
Tagebucheintrag vom 4. Januar 1911
Scott setzt von Anfang an auf seine Ponys. Dass die Hunde mit dem Ziehen schwer beladener Schlitten fertig würden, glaubt er nicht, und ihre unzähmbaren Wesen stimmen ihn misstrauisch – selbst wenn Cecil Meares sie gut trainiert.
«Ich zweifle, dass sich die Hunde gut machen werden. Dagegen arbeiten die Ponys mit ausserordentlicher Sicherheit, marschieren flott und munter und folgen einander auf dem Fuss. Sie haben nur einen Nachteil, dass sie im weichen Schnee leicht einsinken und schon da durchbrechen, wo ein Menschenfuss kaum einen Eindruck auf die Oberfläche macht.»
Tagebucheintrag vom 8. Januar 1911
An den Rändern des Eises zeigen sich zum ersten Mal Schwertwale. Aufgeregt ruft Scott den Fotografen herbei, der nun gefolgt von ein paar Hunden auf sie zurennt. Doch dann sind sie plötzlich nicht mehr zu sehen. Im nächsten Augenblick wölbt sich das Eisfeld unter dem armen Ponting und zerbirst in Stücke:
«Man hörte deutlich das dröhnende Geräusch, als die Walfische sich unter dem Eis aufrichteten und mit dem Rücken dagegen prallten. Dann tauchten sie einer nach dem anderen in den Spalten, die sie gebrochen hatten, hervor und streckten ihre hässlichen Riesenköpfe zwei, drei Meter über das Wasser, wobei ihre braungelbe Kopfzeichnung, ihre kleinen, funkelnden Augen und ihr schreckliches Gebiss – bei Weitem das grösste und furchtbarste auf der Welt – deutlich zu sehen waren. Die Bestien sahen sich offenbar mit dem grössten Interesse danach um, was aus Ponting und den Hunden geworden war.»
Tagebucheintrag vom 5. Januar 1911
Glücklicherweise wurden sie nicht Opfer dieser «Mörder», für deren eben bewiesene Intelligenz der Polarforscher gleichermassen Respekt und Bewunderung hegt.
Scott fand die alten Depots wieder, die er ein paar Jahre zuvor gemeinsam mit seinem Landesgenossen Ernest Shackelton auf der Discovery-Expedition angelegt hatte. Dieses Mal aber wollte er es bis an den Südpol schaffen – so weit hatte sich bisher kein Mensch vorgewagt. Selbst der ehrgeizige Shackelton nicht, der sein Glück 1908 (Nimrod-Expedition) ohne Scott versuchte, und nur 180 Kilometer vor seinem Ziel, auf dem 88. Breitengrad, wieder umkehren musste.
Am 17. Januar ziehen die Männer feierlich in ihre Terra-Nova-Hütte ein.
Der Koch Thomas Clissold verwöhnt die Mägen der Männer indes mit Robbenbraten, Pinguin- oder Möwenfleisch. Sogar seine Seehundsfrikadellen seien ohne jeden tranigen Beigeschmack, versichert Scott.
Die Leute müssen kräftig sein für die Depotreise, die sie Ende Januar zu zwölft mit 8 Ponys und 26 Hunden antreten. Geladen haben sie reichlich Pressheu, Hundekuchen, Reserve-Ausrüstungen, Schneeschuhe, Öl, Spirituskocher, Werkzeuge und Wasserbehälter.
Doch schon beim Aufbruch brechen die Ponys immer wieder ein, die Oberfläche ist noch nicht fest, die Temperatur noch nicht kalt genug.
«Auf der grossen weiten Strasse liegt unser kleines grünes Zelt wie ein winziger Punkt. Der Lärm des Marsches, die überlauten Worte, wenn jeder sein Pferd anfeuert oder schilt, das eilfertige Trippeln der Hundepfoten, das scharfe Aufschlagen der Ponyhufe und das Sausen der nachfolgenden Schlitten sind verhallt. Schweigen herrscht in der weissen Wüste, nur ab und zu unterbrochen vom Winseln eines Hundes, Wiehern eines Pferdes oder vom Krachen eines Fusstrittes, der die Schneekruste durchbricht. Leicht flattern die Wände unserer Leinwandbehausung, das Summen des Primusofens dringt herüber, und aus dem Ventilator strömt der willkommene Duft des Spirituskochers. Aus Süden treiben Schneewolken heran, bleiche gelbe Girlanden, die nach und nach verwischen.
Ein Orkan, der Protest der Natur, ist im Anzug. Schneepuder wirbelt umher, wie feinstes Mehl dringt er durch jede Ritze und in jede Ecke, sogar unter die Kopfbedeckung, und sticht wie Sand. Die Gestalt der Sonne wird immer verzerrter, sie blickt scheu durch das auf uns niedertanzende Gestöber und spendet nur fahles, schattenloses Licht. Einer nach dem anderen verschwindet in den verführerischen Falten seines Schlafsacks».
Scotts Tagebucheintrag vom 2. Februar 1911
Die mager gewordenen Ponys vertragen den Wind noch weniger als die Menschen, die drei schwächsten schickt Scott mit ihren Führern zurück, doch nur eines erreicht lebend die Hütte wieder.
Am 17. Februar errichten die Männer bei 79° 28,5' südlicher Breite das Eintonnenlager. Hier werden sie ihr gesamtes restliches Gepäck endlich los. Zwei Meter hoch bauen sie den Depothügel, stecken eine schwarze Fahne hinein und verteilen Zwiebackdosen auf ihm, auf dass die Sonne bei der Südpolreise im kommenden Jahr ihr Licht zu ihnen zurückwerfen möge. Eigentlich wollten sie das Lager erst beim 80. Breitengrad errichten, doch die Ponys sind so erschöpft, dass sie dringend den Heimweg antreten müssen.
«Oates' Nase ist immer drauf und dran zu erfrieren, und Meares hat eine widerspenstige Zehe, die ihm viel zu schaffen macht. Selbst Bowers' Übermut rächte sich gestern. Wie gewöhnlich zog er mit seinem Filzhütchen und blossen Ohren daher. Auf dem Marsch sah ich ihn mir einmal an und wie ich gefürchtet hatte: Seine Ohren waren ganz weiss! Cherry und ich rieben sie, bis das Blut zurückkehrte ...»
17. Februar 1911
Nur den Hunden versiegen die Kräfte nicht. Ihre Beine scheinen aus Stahl zu sein, schreibt Scott zum ersten Mal anerkennend über sie. Dünn wie Besenstiele sind sie inzwischen und fressen ihre eigenen Exkremente. Hundekuchen allein genügt ihnen nicht – auf der Hauptreise wird Scott sie mit ordentlichem Futter verpflegen müssen.
Am 28. Februar nützen heisser Haferbrei und alle warmen Decken nichts mehr. Der müde Willy bricht zusammen und steht nicht wieder auf. Die Orkane töten die Ponys, die doch so unentbehrlich sind.
Auf Hut Point heisst es warten. Warten, bis die Meerenge endlich zufriert und die Oberfläche stark genug ist, die Ponys auf ihrem Weg nach Hause zu tragen.
«Das Übereinanderschieben des Eises in der Bucht war interessant zu beobachten. Der Rand einer Schicht hebt sich, bricht ab und kriecht nun in langen Zungen auf die nächste Schicht hinauf. Solange die Bewegung dauert, ertönt ständig Musik, ein Durcheinander von Klängen in hoher Tonlage, als ob kleine Vögel in einem nahen Wald zwitscherten. ‹Das Eis singt›, sagen wir dann.»
Tagebucheintrag vom 6. April 1911, auf Hut Point
Am Morgen sitzen die Männer auf den Packkisten und trinken Tee. Am Nachmittag klettern sie auf den Höhen herum und abends wetteifern sie, wer die schmackhafteste Seehundsleber macht. Das ist alles, was auf Hut Point auf dem Speiseplan steht. Mit etwas Erbsmehl, einer Handvoll Rosinen und einem Teelöffel Currypulver wird das Menü stetig verfeinert, sodass die Mannschaft ihres einzigen Gerichtes niemals überdrüssig werde, schreibt Scott sich die Eintönigkeit schmackhaft. Ausrufe der Befriedigung würden jeden Abend ertönen.
Einmal aber blieben sie aus. Es war der Tag, an dem der Arzt Edward Wilson zu weit ging und auf die wahnsinnige Idee verfiel, die Seehundsleber in Pinguinschmalz zu braten. Nur drei Männer verfügten über genug heldenhafte Überwindungskraft, ihr Pfännchen leerzuessen.
Am 13. April ist es endlich ausgestanden. Als sich Scott und seine Begleiter der Terra-Nova-Hütte nähern, springen die Daheimgebliebenen eilig heraus, um sie zu begrüssen.
«Welch ein wunderbarer Kontrast, nach unserem primitiven Leben auf Hut Point wieder in unser warmes, trockenes Heim auf Kap Evans einzuziehen! Der kleine Raum, der jedem zur Verfügung stand, weiterte sich zu einem Palast, die Beleuchtung erschien über alle Beschreibung glänzend und die Bequemlichkeit luxuriös. Nach drei Monaten konnten wir wieder einmal auf zivilisierte Weise essen, uns den Genuss eines Bades gestatten und mit reiner, trockener Kleidung in Berührung kommen. Diese Stunden physischer Zufriedenheit lassen alle Entbehrungen der Vergangenheit vergessen und sind Lichtpunkte in der Erinnerung jedes Polarreisenden; nur sind sie leider zu flüchtig, denn die Gewohnheit nimmt ihnen bald ihre Süsse.»
Tagebucheintrag vom 13. April 1911, zurück in der Terra-Nova-Hütte
10 Ponys verbleiben Scott von den ursprünglich 19. Immerhin können die schönen Ställe, in denen sie über den Winter untergebracht werden, seine sorgenumwitterte Seele ein wenig beruhigen. Doch als er sich die Tiere am nächsten Tag genauer anschaut, packen ihn sofort wieder die schlimmsten Befürchtungen.
«Heute nahm die Sonne Abschied und bot uns noch einmal den herrlichen Anblick ihres goldenen Lichtes über dem Barne-Gletscher. Sie selbst war durch den Gletscher verdeckt, dessen schöne Eisklippen in tiefen Schatten unter den rosigen Strahlen lagen. Nun beginnt das lange, milde Zwielicht, das gleich einer silbernen Spange das Heute mit dem Gestern verbindet.»
Tagebucheintrag vom 23. April, Terra-Nova-Hütte
Damit beginnt der lange Winter, den die Männer gewissenhaft zu füllen verstehen. Der Meteorologe Simpson beobachtet unermüdlich all seine registrierenden Wetter-Instrumente, während der Physiker Wright bestrebt ist, seinen Geist mit den Eisproblemen des wunderschönen Gebietes zu sättigen. Für ein bisschen Geologie-Unterricht hat Biologe Nelson dem Geologen Taylor seine Socken zum Tausch angeboten.
Und als würde all diese alltägliche Gelehrigkeit nicht reichen, lauschen die Männer des Abends den Vorträgen der Wissenschaftler über antarktische Vögel, Südlichter oder Pontings Reise nach Japan.
«Ich glaube nicht, dass sich irgendein Leben stärker durch Bescheidenheit kennzeichnen kann als das auf solchen Expeditionen. Dabei geht eine merkwürdige Umwertung aller Werte vor sich. Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist es leicht, seinen Zweck durch etwas Unverschämtheit zu erreichen; Anmassung ist eine Maske, die manche Schwäche bedeckt; meist fehlen Zeit und Wunsch, hinter diese Maske zu sehen, und man lässt daher die Leute als das gelten, was sie zu sein vorgeben. Hier ist es anders; der äussere Schein gilt hier gar nichts, nur der innere Wert. So schrumpfen die ‹Götter› zusammen und die Demütigen treten an ihre Stelle.»
Tagebucheintrag vom 5. Mai 1911, Terra-Nova-Hütte
Scott ist voll des Lobes für seine Gesellschaft. Es habe nie eine bessere gegeben und kein Misston sei je zwischen sie geraten. Die Superlative jagen einander wie freudige Welpen durch die Sätze des Polarforschers, allesamt sind sie seinen eifrigen Männern gewidmet. Die eigenen Leistungen verschwinden hinter der mächtigen Eiswand seines Bewusstseins für die Verantwortung, die er für so viele Leben zu tragen hat. Nur einmal blitzt ein Stücklein unverhohlener Stolz durch die Zeilen, wenn er schreibt:
«Gestern habe ich über die Südreisepläne gesprochen; alle waren begeistert und es herrscht die allgemeine Überzeugung, dass bei meinen Berechnungen alle uns zu Gebote stehenden Hilfsquellen aufs Beste ausgenutzt sind. Obwohl alle sehr viel über die einzelnen Punkte nachgedacht haben, wurde kein einziger Verbesserungsvorschlag gemacht. Der Plan scheint vollstes Vertrauen gefunden zu haben!»
Tagebucheintrag vom 14. September 1911
Doch bis diese Berechnungen gemacht werden können, dauert es noch. Der Arzt Atkinson wird in der Zwischenzeit fast seine Hand verlieren, weil er in einem Orkan die Orientierung verliert und lange nicht mehr nach Hause findet.
Die Ausrüstung wird laufend getestet und verbessert werden, der Mittwintertag wird vorüberziehen, Deckoffizier Evans wird hervorragende Schuhe und Steigeisen herstellen, die er am zweiten August der Kap-Crozier-Abteilung übergibt. Die drei dafür auserkorenen Männer werden fünf Wochen in östlicher Richtung unterwegs sein, um am besagten Kap angebrütete Kaiserpinguin-Eier einzusammeln.
Und wenn sie aus der Polarnacht zurückkommen, werden ihre Augen glanzlos, ihr Gesicht voller Narben und ihre Hände weiss wie Leichenhände sein. Länger als eine Woche werden sie einer Kälte von weniger als minus 51 Grad getrotzt haben.
Es war so klirrend kalt, dass das Fell ihrer Schlafsäcke einfror und beim Zusammenrollen einfach zerbarst. Doch anhand der schlimmen Erfahrungen der Crozier-Abteilung vermochte Scott die Essensrationen für die anstehende Südpolreise genau zu berechnen.
Dann endlich ist die Sonne wieder da.
Und mit der Sonne kam auch Julick zurück. Der Schlittenhund war für fast einen Monat verschwunden. Ganz wild vor Freude raste er jetzt über das Schneefeld den Männern entgegen und sprang an Scotts Beinen hoch. Blut verkrustete sein Fell und er roch nach Robbenspeck.
Nun war alles bereit für die grosse Reise. Scott hatte zwölf Männer ausgewählt, die ihn nach Süden begleiten sollten. 2842 weisse Kilometer lagen vor ihnen.
Am 24. Oktober werden die zwei Motorschlitten aufs Eis gelassen. Der Motorenspezialist Bernard Day und der Antarktisveteran William Lashly hantieren an ihnen herum, allzu oft bleiben sie mit den Maschinen stehen. Scott traute den Dingern sowieso nie, aber immer, wenn er sie für ein paar Meter, vom Schnee umwirbelt, durch den Nebel sausen sieht, mischt sich schüchtern eine winzige Hoffnung unter seine Gedanken:
Aber bereits am 5. November ist es mit beiden Schlitten aus. Die Motoren sind offenbar nicht für dieses Klima geeignet.
Anfangs macht Scott mit seiner Abteilung noch 18 Kilometer am Tag, selbst mit dem bockigen und stets ausschlagenden Christoffer, dem mühsamsten Pony von allen. Doch sobald die Hufen im allzu weichen Schnee versinken, verlangsamt sich das Tempo.
Am 15. November erreichen sie das Eintonnenlager, wo den Tieren ein Tag Ruhe gegönnt wird. Die Ponys sind schon wieder abgemagert. Die starken schleppen 260 Kilos, die anderen 180. Die Männer tragen ihre hellgrünen Schneebrillen, um ihre Augen zu schützen.
Am 24. November ist Jehu nicht mehr imstande weiterzugehen. Das Pony ergibt vier Mahlzeiten für die Hunde. Die Männer gehen jetzt mit Schneeschuhstöcken.
Am 28. November wird der Chinese erschossen. Auch dieses Pony ergibt vier Mahlzeiten für die Hunde. Und eine für die Männer.
Der Baron ist das stärkste Pferd. Ihm zieht Scott nun die Schneeschuhe an – und tatsächlich, sieben Kilometer lang läuft er ohne Probleme, dann dehnen sie sich derat aus, dass ihm die «elenden Dinger» wieder abgenommen werden müssen.
Scott spricht ein Todesurteil ums andere aus, bei dem knappen Futter müssen die Tiere getötet werden.
Das schlechte Wetter verunmöglicht ein Weiterkommen. Niemand hätte mit diesen Stürmen im Sommer rechnen können, rechtfertigt sich Scott verzweifelt vor sich selbst:
«Was in aller Welt hat solch ein Wetter in dieser Jahreszeit zu bedeuten? Es ist mehr als Pech! Mehr jedenfalls, als wir verdient haben! Warum nur muss meine kleine Gesellschaft allerorten auf Widrigkeiten stossen, während andere lächelnd im Sonnenschein vorwärts spazieren? Keine Voraussicht, keine Überlegung, nichts hätte uns auf diesen Zustand der Dinge vorbereiten können; auch wenn wir zehnmal so erfahren und unseres Zieles sicher gewesen wären – einen solchen Rückschlag hätten wir unter keinen Umständen vermuten können! Aber vielleicht wendet sich das Glück noch?»
Tagebucheintrag vom 5. Dezember 1911
Meares ist schneeblind auf einem Auge. Der Sturm tobt unaufhörlich weiter und holt die Temperatur auf 0,5 Grad unter Null herunter. Wenn es so warm ist, taut alles. Und wenn jetzt noch plötzliche Kälte eintritt, bleibt den Männern nicht einmal die Zeit, ihre Kleider zu trocknen.
«Ein schreckliches Los, immer nur die Wasserflecken an den grünen Wänden unseres Zeltes, die glitzernd nassen Bambusstangen, die schmutzigen klatschnassen Socken und was sonst, von Wasser durchweicht, von der Decke herabbaumelt, anstieren – ewig das Trommeln des herabfallenden Schnees und das Klatschen des aufgeblähten Zelttuches hören – die klebrig feuchten Kleidungsstücke und was man anfassen mag, fühlen zu müssen und dabei zu wissen, dass draussen rechts und links und vorne und hinten eine weisse, farblose Mauer uns entgegen starrt!»
Tagebucheintrag vom 7. Dezember 1911
Die Ponys versinken bis zum Bauch im Schnee. Doch immerhin, am 9. Dezember hat sich der Orkan endlich gelegt. Schnapper zieht auf Schneeschuhen voraus – geradewegs auf seine Schlachtbank zu.
Langsam zeigen auch die ersten Männer Schwächeerscheinungen. Scott schickt Meares und Dimitri mit den Hunden zurück. Auf dem weichen Schnee könne man den Tieren keine schweren Lasten aufbürden. Und überall lauern gefährliche Gletscherspalten.
«Die Augen der Leute sind besser geworden, nur der arme Wilson leidet noch sehr. Heute Vormittag marschierten wir in Unterjacken, die zum Auswinden nass wurden, so brennt uns die Sonne fast unmittelbar auf die Haut, dann kommt eiskalter Zugwind, der einen durchschauert. Unsere Lippen sind sehr wund; wir bekleben sie mit weichem Seidenpflaster. Wir sind entsetzlich durstig, haben auf dem Marsch stets Eis im Mund und trinken bei jeder Rast sehr viel Wasser.»
Tagebucheintrag vom 17. Dezember, auf dem Beardmore-Gletscher
Scott führt seine Männer durch ein unerbittliches Schneefeld. Keine Minute darf er seinen Gedanken nachhängen, ständig muss er wachen über die von Eisspalten durchzogene Erde.
Bis zum 1. Januar 1912 hat er bis auf vier Männer alle zurückgeschickt. Als der arme alte Crean erfährt, dass auch er gehen muss, weint er. Auf 3000 Metern verabschieden sie sich von der kleinen Südpoltruppe, die noch 220 Kilometer von ihrem Ziel entfernt ist.
Wilson ist als Arzt stets um die Wunden seiner Kollegen besorgt, Deckoffizier Evans packt mit seinen riesigen Händen den Schlitten so zierlich und handgerecht, dass das Gewicht stets gleichmässig verteilt ist. Und Proviantverwalter Bowers, «das kleine Wunder», führt gewissenhaft das meteorologische Journal. Die Kälte scheint ihm nichts anhaben zu können, es gefällt ihm geradezu hier. Armeehauptmann Oates war für die Ponys zuständig und tut sich nun als Dauerläufer hervor. Scott ist glücklich über die Auswahl der Männer, die er getroffen hat.
Doch allmählich beginnt auch diesen baumstarken Leuten die Kälte in die Glieder zu fahren. Die Füsse leiden zuerst, das von Evans so vortrefflich geschusterte Schuhwerk ist abgenutzt und durchlässig geworden.
Dann plötzlich taucht in dieser ewig gleichen, weissen Fläche ein schwarzer Fleck in der Ferne auf. Und er war fähig, der monatelang sorgsam gehegte Traum von fünf Männern innerhalb eines Augenblickes zu zerfetzen.
Dort hinten wehte die norwegische Fahne. Amundsen war der Erste am Pol.
Da standen sie nun wie die verlorensten Menschen, die je in einer solch schauerlichen Eintönigkeit gestanden hatten. Alles, was vorher ihre ohnehin schon schwindenden Kräfte noch aufzupeitschen vermochte, war nun tot. Dieses blaue skandinavische Kreuz hatte zustande gebracht, was hundert Orkane nicht geschafft hatten. Es hat den Mut der Männer fortgeweht.
Scotts Herz droht in tausend blutige Stücke zu zerspringen. Er erträgt den Anblick seiner traurigen Gefährten nicht, die er unter so viel Entbehrungen und Mühsal an diesen entsetzlichen Ort geführt hat. Morgen müssen sie zum Pol, um ihre arme, zu spät gekommene Union Jack in den Boden zu stecken. Niemand schläft in dieser Nacht.
Dann wenden sie ihrem treulosen Ziel den Rücken zu und machen sich auf den Rückweg. Evans Nase ist bald eingefroren und die Nägel an seinen Händen beginnen abzufallen. Er, der Heiterste von allen, macht jetzt keine Witze mehr. Oates hat kalte Füsse und Wilsons Bein ist vor Überanstrengung bedenklich angeschwollen.
Orkane verzögern weiterhin die Märsche, verwischen die Spuren und lassen die Nahrung gefährlich knapp werden. Alle reden nur noch vom Essen und Trinken, während sie sich durch die wirren Sastrugi kämpfen, die an ein tosendes weisses Meer erinnern.
Evans hat nun auch an den Füssen Frostbeulen. Unter lächerlichen Vorbehalten will er immer wieder Halt machen. Schliesslich meint er, die anderen sollen schon mal vorgehen, er käme nach. Doch bald fällt er so weit zurück, dass ihn die anderen beinahe aus den Augen verlieren. Und als der kleine Punkt irgendwo in weiter Ferne nach längerem Warten noch immer nicht grösser wird, gehen sie ihm entgegen.
Vielleicht hat ihn das farblose Elend hier draussen verrückt gemacht. Scott und die anderen tragen Evans ins Zelt. Sofort fällt er in einen tiefen Schlaf – und wacht nicht wieder auf.
Im Schlachthauslager gibt es endlich Pferdefleisch. Jetzt gilt es nur noch, das Wettrennen gegen den allzu schnell zu Ende gehenden Sommer und das stürmische Wetter zu gewinnen.
Aber es sieht nicht gut aus. Die Füsse der Männer werden nicht mehr warm und weil irgendjemand irgendwo einen unerklärlichen Fehler gemacht hat, geht das Brennmaterial zu Neige. Zwei Stunden brauchen die Geschwächten morgens inzwischen, um ihre Schuhe anzuziehen.
Am 17. März können Oates verfrorene Füsse nicht mehr weiter. Er weiss, dass er die anderen aufhält. Dass er ihnen lebensnotwendige Zeit stiehlt. «Ich will einmal hinausgehen und bleibe vielleicht eine Weile draussen», sagt er zu seinen Freunden. Dann geht er in den Orkan.
Oates wurde 32 Jahre alt. «Er handelte als Held und als englischer Gentleman», schreibt Scott und hofft, dass er, Bowers und Wilson mit ähnlichem Mut ihrem Ende entgegengehen.
Noch 20 Kilometer bis zum nächsten Depot. Wie lächerlich diese Distanz Scott früher erschienen wäre. Jetzt aber tobt draussen der Sturm mit solch ungeheuerlicher Gewalt, dass ans Marschieren nicht zu denken ist. Der Brennstoff ist aufgebraucht. Das Essen reicht noch für zwei Tage.
«Wir haben es gewagt und wir wussten, was wir wagten; das Glück hat sich gegen uns entschieden, wir dürfen uns deshalb nicht beklagen, sondern wir beugen uns vor dem Willen der Vorsehung. Ich weiss nicht, ob ich ein grosser Entdecker gewesen bin, aber unser Ende wird ein Zeugnis sein, dass der Geist der Tapferkeit und die Kraft zum Erdulden aus unserer Rasse noch nicht entschwunden ist.»
Auszug aus Scotts Botschaft an die Öffentlichkeit
In dieser ausweglosen Lage beschlossen die drei Männer, ihre Opiumtabletten unberührt zu lassen und auf den natürlichen Tod zu warten. Sie hörten ihn schon, wie er leise an die Zeltwand klopfte.
29. März. Es ist Freitag. Scott schreibt in sein Tagebuch:
Es ist sein letzter Eintrag. Dann zittern seine erfrierenden Finger den Wunsch hin: «Schickt dieses Tagebuch meiner Frau!»
Wilson und Bowers steckten in ihren Schlafsäcken, die bis über den Kopf geschlossen waren. Scott musste als Letzer gestorben sein. Der Kopf lag auf seinen drei Tagebüchern, sein Arm umschlang Wilson. So wurden sie acht Monate später von ihren Kollegen Cherry-Garrard, Atkinson, Wright und Crean gefunden.
Auf der letzten Seite von Scotts Tagebuch finden die Männer das Wort «Frau» durchgestrichen. Er hatte in letzter grausamer Gewissheit das Wort «Witwe» darübergeschrieben.
In den Abschiedsbriefen an die Frauen und Mütter seiner Kameraden wendet sich der tote Scott noch einmal zu Wort. Sein Herz überquelle vor Mitleid, schreibt er Mrs. Bowers. Und seiner eigenen Frau, dass sie den gemeinsamen Sohn für Naturgeschichte begeistern soll.
Dann plötzlich taucht in dieser ewig gleichen, weissen Fläche ein schwarzer Fleck in der Ferne auf.
Das können wir uns gar nicht vorstellen, was dieser schwarze Punkt bei Scott und seinen Leuten ausgelöst hat. Nach zehn Wochen, in denen sie ihre Körper über jedes erdenkliche Mass ausgewunden haben, folgt dieser Tiefschlag.
Mann, das war ein toll und spannender geschriebener Artikel. Bitte mehr davon.