Träumen wir uns zurück in den Sommer. Der Lago Maggiore glitzert, es ist so heiss, dass selbst die Palmen schwitzen. In Locarno läuft das Filmfestival, und im Hotel Belvedere über der Stadt halten gerade zwei junge Schweizer Hof, die in einem grossen deutschen Film Hauptrollen spielen: die Tessinerin Carla Juri (31) und der Zürcher Joel Basman (26).
Die beiden spielen zusammen in «Paula», deshalb sind sie hier. Juri spielt Paula, also die deutsche Malerin Paula Modersohn-Becker (1876-1907), die mit 31 Jahren kurz nach der Geburt ihrer Tochter starb. Ihre letzten Worte waren: «Wie schade!» Basman spielt den Schrecken aller Schüler, die mit dem Auswendiglernen von Gedichten geplagt werden: Rainer Maria Rilke (1875-1926). Oder anders: Den Traummann aller, die Gedichte lieben. Und: Der Mann, der als Fan von Mussolini starb.
Carla Juri spielte schon die Helen in «Feuchtgebiete», gerade ist sie auf dem Sprung nach Hollywood, in «Blade Runner 2049» hat sie eine Rolle neben Harrison Ford, Ryan Gosling, Jared Leto und Robin Wright. Wow. Natürlich darf sie darüber nicht reden. Kein Wort.
Findet sie diese Entwicklung ihrer Karriere folgerichtig? «Nein, überhaupt nicht. Als ich die Zusage kriegte, dass ich in ‹Blade Runner› mitspielen werde war ich schon überrascht. Aber ist das nicht alles irgendwie relativ? Also nicht die Menschen, mit denen ich arbeite, die sind natürlich nicht relativ, aber der Erfolg.» Es ist ein Grad von Erfolg, wie ihn weder Paula Modersohn-Becker noch Rainer Maria Rilke zu Lebzeiten je erfuhren.
Paula und Rainer verband eine sehr enge, sehr kreative Freundschaft. Rilke ist Basmans erste Kostümrolle. Normalerweise spielt er deutsche Problemjugendliche. Jetzt also einen Dichter um 1900.
Joel, wieso trägst du einen Schnurrbart, ist der noch von
deiner Rolle als Rilke stehen geblieben?
Joel Basman: Nein, der ist für eine neue Rolle. Rilkes
Gesichtsbehaarung war ganz und gar künstlich, sowas würde ich natürlicherweise
nie hinkriegen.
Ich hab dich noch nie mit so einer krassen
Maske gesehen.
Ich mich auch nicht! Das war auch für mich ein
Experiment.
Zuerst hab ich dich gar nicht erkannt auf
der Leinwand. Hat dies dein Spiel grundsätzlich verändert?
In einem Anzug hat man automatisch eine andere
Haltung, dazu ein Taschenührchen, der Bart, die Haare, da wird man sofort
eitler. Durch den Kleber, mit dem der Bart hielt, war ich tatsächlich ein wenig
eingeschränkt. Zudem ging Rilke am liebsten barfuss. Auch die Sprache ist
eine ganz andere, ich habe noch nie eine Rolle gespielt, in der ich nicht
einfach reden konnte, wie ich rede. Und Rilkes Stimme war höher als meine.
Du bist 26, dein Rilke ist 28, trotzdem wirkt er alt
im Gegensatz zu dir.
Rollen wie der Rilke sind eine Möglichkeit, zu
zeigen, ich kann auch langsam ältere Figuren spielen. Ich sehe ja immer noch
sehr jung aus.
Bis du froh, dass du dem Jungsein allmählich entkommst?
Auch. Ich habe vor zwei Wochen bei einem
Casting zum ersten Mal den Satz «Du bist zu alt» gehört.
Ehrlich? Was war denn das Rollenalter?
18. Für einen Schauspieler, der als
Jugenddarsteller gearbeitet hat, ist es das Schwierigste, in die Welt der
Männerrollen hinein zu kommen. Bei den Frauen besteht die Schwierigkeit, es ab
35, 40 in die Liga einer Meryl Streep, Cate Blanchett oder
Charlotte Gainsbourg zu schaffen. Bei uns Männern ist es oft so, dass
einer für mehrere Jahre ganz von der Leinwand verschwindet. Dann kommt er
wieder und ist krass erwachsen geworden oder gealtert. Deshalb bin ich froh,
dass ich mit dem Rilke schon etwas in diese Richtung vortseuern kann.
Obwohl: Aktuell spiele ich wieder einen 18-Jährigen. Es geht also immer noch.
Rainer und Paula begegnen sich zum ersten Mal in einer deutschen Moorlanschaft: in der Aussteiger- und Künstlerkolonie Worpswede nördlich von Bremen. Paula verliebt sich dort in den vergleichsweise braven, zwölf Jahre älteren Maler Otto Modersohn. Die beiden heiraten, Rilke heiratet Paulas beste Freundin, die Malerin Clara Westhoff. Trotz heftigster Verliebtheit und grösster Bewunderung verzweifelt Otto gelegentlich an Paulas Experimentierfreude.
Carla Juri knallt und spachtelt als Paula die Farbe auf die Leinwand, es ist klar, dass sie das gelernt hat: «Ich hatte Unterricht in Ölmalerei, ich durfte für mich allein in Deutschland in einem Atelier mit Berufsmalern arbeiten, ab und zu hat einer geschaut, wie es mir mit dem Malen geht, oder mich korrigiert. Aber vor allem arbeitete ich für mich. Beim Malen entsteht eine Selbstvergessenheit, die mir gefällt. Ich lernte, im Stil von Paula zu malen und recherchierte daneben auch noch zu Cézanne und Gauguin, weil die beiden einen wichtigen Einfluss auf sie hatten.» Joel Basman hatte es da einfacher.
Was war deine Rilke-Erfahrung vor dem Dreh?
Ich kannte den Namen, aber mehr über die
Geschichten von Lou Andreas-Salomé und Nietzsche. In der Schule hatten wir
nichts von Rilke gelesen. Für den Film habe ich mich tief und anständig mit ihm
befasst. Mit seiner Kindheit, seiner Jugend, seinen Gedichten, Schriften,
Elegien. Es ist unglaublich, was er alles geschrieben hat, wieviel er
geschrieben hat, wieviele Bücher es von ihm gibt. Die einzige
Möglichkeit, ihn kennen zu lernen, ist einfach, alles zu lesen.
War das mühsam? In deinem Alter fand ich Rilke ja was
vom Grössten.
Meine Rolle war etwas begrenzt, weil ich den
sehr jungen Rilke spielen musste. Er hatte also noch nicht alles geschrieben
und noch nicht so viel erlebt, auch sein Roman «Malte Laurids Brigge»
war erst langsam im Entstehen, die Elegien fehlten noch. Seine frühe Phase habe
ich als sehr schwer nachempfindbar empfunden. Da es auch viele Spekulationen
darüber gibt. Natürlich bin auch ich ein grosser Fan seines Gedichts
«Der Panther», das ist einfach genial, und auch «Das Karussell» ist unglaublich
beobachtet. Ich lese das und habe immer dieses «Yes! Yes!»-Erlebnis, das ist
unglaublich schön.
Ihr trägt Kostüme, trotzdem wirkt euer Zugriff auf die
historischen Figuren ungeheuer frisch, modern und zeitgemäss.
Der Regisseur
Christian Schwochow sagte uns: Bitte, bitte, versteift euch nicht,
macht euch nicht gescheiter und vornehmer als ihr seid, redet ganz natürlich,
vergesst alles, ihr seid junge Menschen, ihr wollt euch entdecken! Klar
könnt ihr nicht «geil» oder «okay» oder «superduper» sagen, aber bewegt euch
frei, pathetische grosse Gesten sind Bullshit. Ihr habt eh keine
Ahnung von 1903, also versucht es gar nicht erst. Bloss weil die
Menschen damals lebten, waren sie nicht komischer als ihr heute.
Ist Rilke auch als Künstler zu deiner
Identifikationsfigur geworden?
Auf jeden Fall. Er ist eine Bereicherung! Ich
will mich jetzt gar nicht als Rilke-Experte bezeichnen, aber als ich mich mit
ihm befasste, war er mein einziges Projekt, ich habe neben ihm nichts
gemacht und mich mit so vielen Büchern eingedeckt, dass es zwischendurch schon
mal aussah, als würde ich eine Doktorarbeit schreiben. Wenn man Rilke in der
Schule liest, ist es ja eher so ein «Müssen». Bei mir wars ein
«Dürfen».
Hattest du vor dem Dreh schon mal von Worpswede und
seiner Künstlerkolonie gehört?
Nein, gar nichts. Auch Paula Modersohn-Becker
war mir kein Begriff. Die ganzen Pariser Künstler kannte ich, Rodin, Cézanne
und so weiter, aber die deutschen lernte ich erst durch den Film kennen.
Kannst du mit Paulas Malerei was anfangen?
Unbedingt, das ist echt, ehrlich und düster.
Vor allem war es ihr unverkennbarer Stil. Es war keine schöne Zeit damals, es war dreckig, es
stank, sie hat ja auch im Armenhaus von Worpswede gemalt. Ich glaube, das
Porträt, das sie von Rilke gemalt hat, mochte er nicht. Er fand es nicht
schön.
Das Künstler-Biopic «Paula» läuft ab 22. Dezember im Kino.