«Du hast keine Chance – also nutze sie!». Diesen Spruch verwenden Amerikaner gerne, wenn es gilt, eine knifflige Situation zu meistern. Für Joe Biden war es bezüglich Afghanistan mehr als eine sarkastische Aufforderung, es war bittere Realität.
Die Situation, vor der Biden stand, war – vulgär ausgedrückt – beschi…en. Sein Vorgänger Donald Trump hatte mit den Taliban bereits einen Deal ausgehandelt, wonach die USA sich bis am 1. Mai 2021 aus Afghanistan zurückziehen würden. Im Gegenzug versprachen die Taliban, keine US-Soldaten mehr anzugreifen. Um den Deal zu besiegeln, wollte Trump die Taliban-Führer gar nach Camp David einladen, dem Ferienhaus der US-Präsidenten. Nur im letzten Moment konnte er mit grosser Mühe davon abgehalten werden.
Trumps Zusage an die Taliban war eine schwere Hypothek für Biden. Der vermeintliche Waffenstillstand erweckte den falschen Eindruck, wonach 2500 amerikanische Soldaten genügen würden, die Taliban in Schach und die Regierung an der Macht zu halten. Warum also etwas daran ändern? Schliesslich starben – prozentual gesehen – im Hindukusch und in Kabul weniger Menschen als im amerikanischen Strassenverkehr, und die Kosten waren ebenfalls überschaubar geworden.
Als Joe Biden daher verkündete, er wolle die Soldaten bis spätestens zum geschichtsträchtigen Datum 11. September heimholen, geriet er in einen Shitstorm. Er liefere die afghanischen Frauen ans Messer, warfen ihm die Kritiker aus allen Lagern vor, und er verrate die amerikanischen Ideale.
Was die Kritiker nicht sagten, war, was die Folgen gewesen wären, hätte Biden den Trump-Deal mit den Taliban wieder aufgehoben:
Die muslimischen Fundamentalisten hätten ihren Guerilla-Krieg wieder aufgenommen. Särge mit toten US-Soldaten wären wieder über die amerikanischen Bildschirme geflimmert. Der Präsident wäre gezwungen gewesen, die Truppenstärke in Afghanistan wieder zu erhöhen und die Luftangriffe mit Kampfjets und Drohnen zu intensivieren, eine Kriegstaktik, die zwangsläufig immer wieder schreckliche zivile Opfer erfordert.
Kurz: Biden wäre in der gleichen Situation gewesen wie Barack Obama 2012. Obwohl dieser den Krieg ebenfalls ablehnte, hatte er in der Hoffnung auf einen endgültigen Sieg die amerikanischen Truppen massiv aufgestockt.
Schon als Vize-Präsident wollte Biden das Abenteuer Afghanistan beenden. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Als Präsident hat er nun gehandelt und das amerikanische Engagement nach rund 20 Jahren abgebrochen. Gemäss dem Motto «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende» verkündete er am 6. April: «Ich bin der vierte Präsident – zwei republikanische und zwei demokratische –, der über die amerikanischen Truppen in Afghanistan befinden muss. Ich will diese Situation nicht noch einem fünften Präsidenten übergeben.»
Das gescheiterte Afghanistan-Experiment kann jedoch weder Trump noch Biden allein in die Schuhe geschoben werden. Es ist letztlich die Folge einer Doktrin der amerikanischen Aussenpolitik, die unter Ronald Reagan begann. Was ist gemeint?
Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die amerikanische Aussenpolitik im Wesentlichen darauf, die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Mit dem sogenannten «containment» wurde versucht, den Einfluss der Sowjetunion zu begrenzen. Deshalb stürzten sich die Amerikaner auch in den verhängnisvollen Vietnam-Krieg.
Die Reagan-Regierung stand aussenpolitisch unter dem Einfluss der Neocons, einer Gruppe ehemals kommunistischer Intellektueller, die zum Konservatismus konvertierten. Die Neocons verwarfen die «Containment»-Strategie und schlugen stattdessen einen «regime change» vor, will heissen: Die Amerikaner sollen autoritäre Regimes stürzen und danach beim Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft behilflich sein. «Nation building» nannte sich dies in der Fachsprache.
Der Kollaps der UdSSR gab den Neocons gewaltig Auftrieb. Ihre Vertreter übernahmen die Spitzenpositionen von den ehemaligen «Containment»-Vertretern im Aussenministerium. Der Glaube an den Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft war unerschütterlich geworden. Bald würde die ganze Welt davon profitieren. Zuvor galt es noch ein paar schwarze Schafe mittels «regime change» zu eliminieren.
Ausgangspunkt für den Einsatz in Afghanistan war 9/11. Die mehrheitlich saudi-arabischen Terroristen waren in Trainingslagern im Hindukusch ausgebildet worden. Auch ihr Anführer, Osama bin Laden, hielt sich dort versteckt. Als George W. Bush seine Truppen nach Afghanistan beorderte, tat er dies im Wissen, die überwiegende Mehrheit der Amerikaner hinter sich zu haben.
Was als «Krieg gegen den Terrorismus» begann, veränderte jedoch bald den Charakter. Die Taliban waren rasch besiegt, doch ein «nation building» war mit diesem «regime change» noch längst nicht erreicht. Die Amerikaner sollten daher auf die harte Tour erfahren, dass der Aufbau einer Demokratie eine unendlich schwierige Sache ist und nicht in ein paar Monaten mit ein paar Beratern bewerkstelligt werden kann.
Die Gesellschaft von Afghanistan ist geprägt von Warlords, Anführer von mächtigen Clans, und fanatischen Islamisten; eine Mischung, die nur schwer zu knacken ist. Der Aufbau einer Demokratie unter solchen Umständen ist unmöglich, zumal das Verständnis einer solchen Gesellschaft bei den Amerikanern begrenzt ist.
Im «New Yorker» wird Lieutenant Colonel Stephen Lutsky, ein langjähriger Kommandant in Afghanistan, wie folgt zitiert: «Die kulturelle Komplexität des Umfelds ist zu gross, als dass wir sie verstehen könnten. Für uns Amerikaner ist alles schwarz und weiss – jemand ist entweder unser Freund oder unser Feind. Bei den Afghanen ist dies anders. Für sie gibt es gute und schlechte Taliban, mit den einen kann man sich verständigen, mit anderen nicht. Das übersteigt unser Vorstellungsvermögen.»
Ebenso illusorisch war das Bemühen der Amerikaner, eine schlagkräftige afghanische Armee auf die Beine zu stellen. Am Geld hat es nicht gemangelt, doch an allem anderen. Schon vor ein paar Monaten hat die «Washington Post» einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorging, dass diese Armee von Korruption und schlechter Führung durchseucht war.
Was bleibt? In Kabul ist nun genau das eingetreten, was Präsident Biden auf jeden Fall verhindern wollte: eine Wiederholung von Saigon, die überstürzte Flucht der Amerikaner nach dem Einzug der Nordvietnamesen und des Vietcong in die vietnamesische Hauptstadt. Das Renommee ist auch diesmal schwer beschädigt, die USA dürften ihren Ruf als «unverzichtbare Nation» bis auf Weiteres los sein.
Innenpolitisch wird sich der Schaden in Grenzen halten. Die Amerikanerinnen und Amerikaner wollen seit Jahren raus aus Afghanistan. Sie halten dieses Engagement für eine reine Verschwendung von Menschenleben und Steuergeldern.
Joe Biden war bewusst, dass er mit dem raschen und endgültigen Rückzug ein grosses Risiko eingehen würde. Trotzdem steht er nun da wie ein begossener Pudel. Noch vor ein paar Wochen hat er öffentlich erklärt, ein Chaos wie seinerzeit in Saigon werde es mit Sicherheit nicht geben. Nun muss er genau ein solches Chaos rechtfertigen, unter den Schmährufen und der Schadenfreude seiner politischen Gegner.
Ein Trost bleibt Biden: Der rasche und vollständige Kollaps der afghanischen Regierung und das feige Verhalten der Armee sind indirekte Beweise dafür, dass er letztlich recht hatte. Die Situation in Afghanistan ist für die Amerikaner aussichtslos geworden.
Eine „gute“ Entscheidung war nicht möglich.
Und gerade darum hat er richtig entschieden.