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Afghanistan: Warum Joe Biden keine Chance hatte

In this photo released by The White House, President Joe Biden meets virtually with his national security team and senior officials for a briefing on Afghanistan, Sunday, Aug. 15, 2021, at Camp David, ...
Bild: keystone
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Afghanistan: Warum Joe Biden keine Chance hatte – und sie auch nicht nutzte

Der Kollaps in Kabul ist eine schwere Niederlage für den US-Präsidenten. Er hatte jedoch miserable Karten im Machtpoker.
16.08.2021, 13:4516.08.2021, 14:27
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«Du hast keine Chance – also nutze sie!». Diesen Spruch verwenden Amerikaner gerne, wenn es gilt, eine knifflige Situation zu meistern. Für Joe Biden war es bezüglich Afghanistan mehr als eine sarkastische Aufforderung, es war bittere Realität.

Die Situation, vor der Biden stand, war – vulgär ausgedrückt – beschi…en. Sein Vorgänger Donald Trump hatte mit den Taliban bereits einen Deal ausgehandelt, wonach die USA sich bis am 1. Mai 2021 aus Afghanistan zurückziehen würden. Im Gegenzug versprachen die Taliban, keine US-Soldaten mehr anzugreifen. Um den Deal zu besiegeln, wollte Trump die Taliban-Führer gar nach Camp David einladen, dem Ferienhaus der US-Präsidenten. Nur im letzten Moment konnte er mit grosser Mühe davon abgehalten werden.

epa07826910 (FILE) - US President Donald J. Trump participates a briefing on Hurricane Dorian in the Oval Office of the White House in Washington, DC, USA, 04 September 2019 (reissued 08 September 201 ...
Versprach den Taliban einen Deal: Ex-Präsident Donald Trump.Bild: EPA

Trumps Zusage an die Taliban war eine schwere Hypothek für Biden. Der vermeintliche Waffenstillstand erweckte den falschen Eindruck, wonach 2500 amerikanische Soldaten genügen würden, die Taliban in Schach und die Regierung an der Macht zu halten. Warum also etwas daran ändern? Schliesslich starben – prozentual gesehen – im Hindukusch und in Kabul weniger Menschen als im amerikanischen Strassenverkehr, und die Kosten waren ebenfalls überschaubar geworden.

So dramatisch geht es derzeit in Afghanistan zu und her:

Video: watson

Als Joe Biden daher verkündete, er wolle die Soldaten bis spätestens zum geschichtsträchtigen Datum 11. September heimholen, geriet er in einen Shitstorm. Er liefere die afghanischen Frauen ans Messer, warfen ihm die Kritiker aus allen Lagern vor, und er verrate die amerikanischen Ideale.

Was die Kritiker nicht sagten, war, was die Folgen gewesen wären, hätte Biden den Trump-Deal mit den Taliban wieder aufgehoben:

Die muslimischen Fundamentalisten hätten ihren Guerilla-Krieg wieder aufgenommen. Särge mit toten US-Soldaten wären wieder über die amerikanischen Bildschirme geflimmert. Der Präsident wäre gezwungen gewesen, die Truppenstärke in Afghanistan wieder zu erhöhen und die Luftangriffe mit Kampfjets und Drohnen zu intensivieren, eine Kriegstaktik, die zwangsläufig immer wieder schreckliche zivile Opfer erfordert.

Kurz: Biden wäre in der gleichen Situation gewesen wie Barack Obama 2012. Obwohl dieser den Krieg ebenfalls ablehnte, hatte er in der Hoffnung auf einen endgültigen Sieg die amerikanischen Truppen massiv aufgestockt.

FILE - In this Nov. 2, 2020 file photo, former President Barack Obama speaks at a rally as he campaigns for Democratic presidential candidate former Vice President Joe Biden in Atlanta. A long-time pa ...
Auch er wollte eigentlich aus Afghanistan abziehen: Barack Obama.Bild: keystone

Schon als Vize-Präsident wollte Biden das Abenteuer Afghanistan beenden. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Als Präsident hat er nun gehandelt und das amerikanische Engagement nach rund 20 Jahren abgebrochen. Gemäss dem Motto «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende» verkündete er am 6. April: «Ich bin der vierte Präsident – zwei republikanische und zwei demokratische –, der über die amerikanischen Truppen in Afghanistan befinden muss. Ich will diese Situation nicht noch einem fünften Präsidenten übergeben.»

Das gescheiterte Afghanistan-Experiment kann jedoch weder Trump noch Biden allein in die Schuhe geschoben werden. Es ist letztlich die Folge einer Doktrin der amerikanischen Aussenpolitik, die unter Ronald Reagan begann. Was ist gemeint?

Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die amerikanische Aussenpolitik im Wesentlichen darauf, die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Mit dem sogenannten «containment» wurde versucht, den Einfluss der Sowjetunion zu begrenzen. Deshalb stürzten sich die Amerikaner auch in den verhängnisvollen Vietnam-Krieg.

Die Reagan-Regierung stand aussenpolitisch unter dem Einfluss der Neocons, einer Gruppe ehemals kommunistischer Intellektueller, die zum Konservatismus konvertierten. Die Neocons verwarfen die «Containment»-Strategie und schlugen stattdessen einen «regime change» vor, will heissen: Die Amerikaner sollen autoritäre Regimes stürzen und danach beim Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft behilflich sein. «Nation building» nannte sich dies in der Fachsprache.

FILE - This Jan. 28, 1986, file photo shows President Ronald Reagan in the Oval Office of the White House after a televised address to the nation about the space shuttle Challenger explosion. In momen ...
Verliess sich auf die Neocons: Ronald Reagan.Bild: keystone

Der Kollaps der UdSSR gab den Neocons gewaltig Auftrieb. Ihre Vertreter übernahmen die Spitzenpositionen von den ehemaligen «Containment»-Vertretern im Aussenministerium. Der Glaube an den Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft war unerschütterlich geworden. Bald würde die ganze Welt davon profitieren. Zuvor galt es noch ein paar schwarze Schafe mittels «regime change» zu eliminieren.

Ausgangspunkt für den Einsatz in Afghanistan war 9/11. Die mehrheitlich saudi-arabischen Terroristen waren in Trainingslagern im Hindukusch ausgebildet worden. Auch ihr Anführer, Osama bin Laden, hielt sich dort versteckt. Als George W. Bush seine Truppen nach Afghanistan beorderte, tat er dies im Wissen, die überwiegende Mehrheit der Amerikaner hinter sich zu haben.

Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan

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Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan
Am 15. August 2021 haben die Taliban ihr Ziel erreicht: Sie sind in der Hauptstadt Kabul einmarschiert und haben den Präsidentenpalast in ihrer Kontrolle.
quelle: keystone / zabi karimi
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Was als «Krieg gegen den Terrorismus» begann, veränderte jedoch bald den Charakter. Die Taliban waren rasch besiegt, doch ein «nation building» war mit diesem «regime change» noch längst nicht erreicht. Die Amerikaner sollten daher auf die harte Tour erfahren, dass der Aufbau einer Demokratie eine unendlich schwierige Sache ist und nicht in ein paar Monaten mit ein paar Beratern bewerkstelligt werden kann.

Die Gesellschaft von Afghanistan ist geprägt von Warlords, Anführer von mächtigen Clans, und fanatischen Islamisten; eine Mischung, die nur schwer zu knacken ist. Der Aufbau einer Demokratie unter solchen Umständen ist unmöglich, zumal das Verständnis einer solchen Gesellschaft bei den Amerikanern begrenzt ist.

Newly Afghan Army Special forces attend their graduation ceremony after a three-month training program at the Kabul Military Training Centre (KMTC) in Kabul, Afghanistan, Saturday, July 17, 2021. (AP  ...
Keine Lust, zu kämpfen: Soldaten der afghanischen Armee.Bild: keystone

Im «New Yorker» wird Lieutenant Colonel Stephen Lutsky, ein langjähriger Kommandant in Afghanistan, wie folgt zitiert: «Die kulturelle Komplexität des Umfelds ist zu gross, als dass wir sie verstehen könnten. Für uns Amerikaner ist alles schwarz und weiss – jemand ist entweder unser Freund oder unser Feind. Bei den Afghanen ist dies anders. Für sie gibt es gute und schlechte Taliban, mit den einen kann man sich verständigen, mit anderen nicht. Das übersteigt unser Vorstellungsvermögen.»

Ebenso illusorisch war das Bemühen der Amerikaner, eine schlagkräftige afghanische Armee auf die Beine zu stellen. Am Geld hat es nicht gemangelt, doch an allem anderen. Schon vor ein paar Monaten hat die «Washington Post» einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorging, dass diese Armee von Korruption und schlechter Führung durchseucht war.

Was bleibt? In Kabul ist nun genau das eingetreten, was Präsident Biden auf jeden Fall verhindern wollte: eine Wiederholung von Saigon, die überstürzte Flucht der Amerikaner nach dem Einzug der Nordvietnamesen und des Vietcong in die vietnamesische Hauptstadt. Das Renommee ist auch diesmal schwer beschädigt, die USA dürften ihren Ruf als «unverzichtbare Nation» bis auf Weiteres los sein.

Innenpolitisch wird sich der Schaden in Grenzen halten. Die Amerikanerinnen und Amerikaner wollen seit Jahren raus aus Afghanistan. Sie halten dieses Engagement für eine reine Verschwendung von Menschenleben und Steuergeldern.

16.08.2021, Niedersachsen, Wunstorf: Ein drittes Transportflugzeug vom Typ Airbus A400M der Luftwaffe hebt am Vormittag auf dem Fliegerhorst Wunstorf in der Region Hannover ab. Angesichts des rasanten ...
Ein deutsches Armeeflugzeug hebt auf dem Fliegerhorst Wunstorf in der Region Hannover nach Kabul ab. Es soll deutscher Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte aus Afghanistan zurückbringen.Bild: keystone

Joe Biden war bewusst, dass er mit dem raschen und endgültigen Rückzug ein grosses Risiko eingehen würde. Trotzdem steht er nun da wie ein begossener Pudel. Noch vor ein paar Wochen hat er öffentlich erklärt, ein Chaos wie seinerzeit in Saigon werde es mit Sicherheit nicht geben. Nun muss er genau ein solches Chaos rechtfertigen, unter den Schmährufen und der Schadenfreude seiner politischen Gegner.

Ein Trost bleibt Biden: Der rasche und vollständige Kollaps der afghanischen Regierung und das feige Verhalten der Armee sind indirekte Beweise dafür, dass er letztlich recht hatte. Die Situation in Afghanistan ist für die Amerikaner aussichtslos geworden.

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134 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Snowy
16.08.2021 13:56registriert April 2016
Joe Biden hatte lediglich die Wahl zwischen Pest und Cholera…

Eine „gute“ Entscheidung war nicht möglich.
Und gerade darum hat er richtig entschieden.
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Truth Hurts
16.08.2021 13:50registriert Mai 2016
Biden kann da überhaupt nichts für, Obama hätte dem Schwachsinn längst ein Ende setzen müssen.
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Christian Weston Chandler
16.08.2021 14:12registriert Dezember 2019
Biden hat für mich im Interesse seines Landes gehandelt, aber auf kommunikativer und operativer Ebene versagt. Man darf in so einer Situation nicht in die Ferien. Auch wurden die vielen Unterstützer vor Ort verraten, die keine Zeit mehr hatten für eine Evakuation und jetzt selber irgendwie schauen müssen, dass sie raus kommen, wenn sie nicht schon tot sind. Kurz: Der Exit war richtig, die Art und Weise nicht. Wenn nötig hätte man mit militärischen Mitteln Zeit gewinnen müssen, damit man alle rausschaffen kann in einer geordneten Weise.
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