Ab Freitag gilt in ganz Israel wieder der «Lockdown»: Schulen, Restaurants, Läden werden geschlossen und die Menschen dürfen sich nicht weiter als 500 Meter von ihrem Zuhause entfernen. Das hat die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Sonntagabend beschlossen.
Es ist der zweite Lockdown in Israel und er soll drei Wochen dauern. Seit Ende Mai steigen die Corona-Zahlen in Israel kontinuierlich an. Letzten Donnerstag verzeichnete das Land über 4000 Neuinfektionen. Das waren zehn Mal soviel wie in der bevölkerungsmässig fast gleich grossen Schweiz. Damit konnte die Regierung den erneuten landesweiten Stillstand nicht weiter hinauszögern.
Joëlle Weil, in Israel kommt der zweite Lockdown. Wie ist die Stimmung in Tel Aviv?
Joëlle Weil: Schlecht, wie in ganz Israel. Vielen Betrieben, die den ersten Lockdown knapp überlebt haben, droht jetzt der wirtschaftliche Genickbruch.
Warum wird der Lockdown gerade jetzt ausgerufen?
Am kommenden Freitagabend beginnt Rosh Hashana, das jüdische Neujahrsfest. Eine Woche später wird Jom Kippur gefeiert – ein Fastentag und der höchste Festtag im Judentum. Es bietet sich daher sehr an, den Lockdown jetzt zu verhängen. Immerhin gilt das familiäre Umfeld als Ansteckungsort Nummer 1.
Führt das zu Spannungen zwischen den Gläubigen und der Regierung?
Rosh Hashana ist nicht ausschliesslich für Gläubige, auch Nicht-Gläubige feiern an diesem Tag. Es ist zu vergleichen mit Weihnachten in der Schweiz, da machen Gläubige sowie Sekuläre mit. Jeder auf seine Art und Weise. Das ist für alle frustrierend, viele Israelis sind bedrückt, weil sie diese Tage nun bloss bei sich zuhause, anstatt mit der ganzen Familie feiern dürfen.
Warum ist die Corona-Situation in Israel überhaupt ausser Kontrolle geraten?
Die Regierung hat den letzten Lockdown viel zu schnell gelockert und Grossanlässe zu schnell wieder erlaubt. Die Entscheidungen wurden vorschnell und übermütig getroffen. Dann noch gleichzeitig an die Disziplin der Bevölkerung zu appellieren, konnte nicht funktionieren. Vor allem schaut es in Tel Aviv seit Wochen so aus, als hätte es Corona nie gegeben. Abgesehen von der Maskenpflicht in den Läden merkt man nichts.
Israel hat fast gleich viele Einwohner wie die Schweiz. Was macht Ministerpräsident Benjamin Netanjahu anders als der Bundesrat?
Gute Frage, das würde die Bevölkerung in Israel auch gerne wissen. Leider gibt es darauf keine klare Antwort. Die einzige mögliche Erklärung wäre wohl der kulturelle Unterschied. Die euphorischen Lockerungen Netanjahus nach dem ersten Lockdown tragen zweifelsohne ihre Mitschuld. Seine Aufforderung an die Bevölkerung, ruhig wieder rauszugehen und «Kaffee oder Bier zu trinken», war der falsche Ansatz. Schade, denn zu Beginn hat Israel durch Entscheidungsfreude und -tempo gut vorgelegt.
Was genau meinen Sie mit «kulturellem Unterschied»?
Israelis lassen sich nicht gerne sagen, was sie zu tun haben. Jeder nimmt sich Freiheiten heraus und macht sich selbst zur Ausnahme. Aber bei acht Millionen Ausnahmen funktionieren dann die Massnahmen nicht mehr. Israel ist ein Kriegsland: Sie machen mit, wenn es sich um einen Notfall handelt. Aber dieser «Notfallmodus-Knopf» kann man nicht beliebig drücken. Die Regierung – die in sich sowieso gespalten ist – hat zu viele in der Bevölkerung enttäuscht, handelt wirtschaftlich zum Nachteil Vieler, kommuniziert uneinig und unklar und hat sich das Vertrauen Vieler verspielt.
Werden sich die Israelis überhaupt an den zweiten Lockdown halten?
In Tel Aviv haben einige Gastronomen bereits angekündigt: «Wir schliessen unsere Geschäfte nicht, dann erhalten wir halt Bussen.» Ob das tatsächlich so sein wird, werden wir ja sehr bald sehen können. Trotz schlechter Stimmung denke ich dennoch, dass sich die meisten daran halten werden.
- Die Regierung erlässt Hygienemassnahmen wie Maskenpflichten und Einschränkungen bei Massenveranstaltungen. Die Leute ignorieren die Massnahmen.
- Die Fallzahlen steigen deshalb und es kommt zum Lockdown. Die Leute gehen auf die Barrikaden.
Verstehen die nicht, dass sie zumindest eine Teilschuld wegen ihrem Verhalten trifft, dass es zum Lockdown kommt.