Ein Apéro, neue Bekanntschaften, lockerer Smalltalk. Und was machst du so beruflich? Wenn diese Frage fällt, weiss Ignaz Heim: Jetzt muss er sich warm anziehen.
Ignaz Heim ist der Präsident der Vereinigung der Berufsbeistände in der Schweiz (SVBB). Also jener Menschen, die von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) eingesetzt werden, wenn eine Person nicht mehr selber für sich oder ihre Kinder sorgen kann.
Wenn der 54-Jährige Fremden von seinem Job erzählt, merkt er, wie schlecht viele Menschen auf diese Behörde zu sprechen sind. Verkrampftes Lächeln, aufgerissene Augen. «Ui, die KESB! Du bist also einer von den ‹Bösen›.»
Spätestens seit dem Fall Flaach kommt die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde nicht mehr aus den Negativschlagzeilen heraus. 2015 tötete in der Zürcher Gemeinde eine junge Mutter ihre beiden Kinder, nachdem die KESB das Mädchen und den Buben gegen den Willen der Familie in einem Heim platziert hatte. In den sozialen Medien hagelte es Drohungen gegen die Mitarbeiter der Behörde. Seit letztem Monat nun läuft die Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative, welche die KESB entmachten will.
Ignaz Heim arbeitet genau genommen nicht für die KESB, sondern für den KESD – den Kindes- und Erwachsenenschutzdienst. Während die KESB Gefährdungsmeldungen erhält, die Fälle abklärt und Entscheidungen trifft – eben zum Beispiel, ein Kind fremdzuplatzieren oder jemandem einen Beistand zur Seite zu stellen – ist der KESD der ausführende Dienst. Bei ihm sind die Berufsbeistände angestellt.
Genau diese Berufsbeistände sind es, die faktisch im Fokus der Volksinitiative stehen. Geht es nach SVP-Nationalrat Pirmin Schwander und seinem Komitee, sollen in Zukunft nur noch in Ausnahmefällen Profis zum Zug kommen, wenn Eltern das Wohl ihrer eigenen Kinder gefährden oder wenn eine Person urteilsunfähig wird. Der Initiativtext sieht vor, dass automatisch ein Familienmitglied einspringt – der Lebenspartner, die Grosseltern, die Tante.
«Das klingt sympathisch, ist aber leider nicht zu Ende gedacht», sagt Ignaz Heim beim Gespräch in seinem Büro in Wohlen AG. Wenn ein Familienmitglied geeignet sei, sich um ein Kind zu kümmern, werde schon heute eine solche Lösung bevorzugt. «Nur haben wir es leider häufig mit Familienkonstellationen zu tun, in denen sehr vieles im Argen liegt. Was ist, wenn Familienmitglieder auch Täter sind?» Er zeigt auf einen Stapel mit Dossiers auf seinem Schreibtisch.
Heim deutet auf einen roten Ordner im Regal. Ein weiterer Fall:
Heim könnte noch viele weitere Beispiele nennen. Zum Beispiel jenes des dementen Vaters, der von seinen eigenen Enkeln ausgenommen wird. Allein im KESD des Bezirks Bremgarten, den Heim neben des SVBB-Präsidiums leitet, betreuen die 13 Berufsbeistände jährlich 930 Fälle. In den Regalen der Büros sind die Ordner fein säuberlich aufgereiht, jeder mit dem Namen eines Klienten beschriftet.
«Während es in manchen Fällen sinnvoll ist, wenn die Grossmutter oder der Onkel ein Kind betreut – unterstützt von der Schulsozialarbeit und dem Schulpsychologischen Dienst –, verlängert sich die Leidenszeit in anderen Fällen dadurch unnötig», sagt Heim, «und der Schaden wird grösser.»
So gebe es im Fall von Vanessa keinen Verwandten, bei dem davon auszugehen sei, dass er dem Mädchen die nötigen Strukturen bieten könnte. «Zudem würde ein solches Experiment die Krise noch verschärfen.» Wenn eine 10-Jährige regelmässig unbeaufsichtigt sei und Pornos konsumiere, dann sei ihr Wohl stark gefährdet. Die Chance sei gross, dass sie eine psychische Auffälligkeit entwickle.
In diesem Alter zähle jeder Monat. «Wenn wir zwei Jahre warten, ob sich etwas ändert, geht im Leben dieses Mädchens ganz viel kaputt.» Vanessa hat deshalb einen Beistand bekommen, der sie in der Entwicklung begleitet und die Eltern in der Betreuung unterstützt.
Auch Alisha hat einen Beistand erhalten. Er setzt sich dafür ein, dass das Mädchen eine finanzielle Genugtuung bekommt. Mit dem Geld soll eine Zusatzversicherung abgeschlossen werden, damit sich Alisha später, wenn sie das Geschehene begreift, und «höchst wahrscheinlich eine Krise erlebt», in psychologische Behandlung begeben kann.
«Die Eltern von Alisha verstehen die Situation ihres Kindes und die langfristigen Folgen der Tat offensichtlich nicht, sie grenzen sich vom Onkel zu wenig ab», stellt Heim fest. Auch für den Grossvater wäre es schwierig, die Interessen der Enkelin gegen jene seines Sohnes – des übergriffigen Onkels – zu verteidigen.
Heim, ein studierter Naturwissenschaftler, spricht schnörkellos. Ohne Pathos erzählt er vom jungen Mann, «wo id Chischte cho isch». Von Leuten, «wo komplett duregheied». Von dem kleinen Mädchen, das in der Schule ständig «figge» sagt. Sie sind sein tägliches Metier.
Er habe es oft mit schlimmen Schicksalen zu tun, sagt Heim. Doch es gelinge ihm, sich abzugrenzen, weil er keine Schuldigen suche: «Die Situation ist so, wie sie ist. Wir müssen die bestmögliche Lösung für die Betroffenen finden und eine gute Entwicklung fördern.»
Die KESB-Kritiker um Pirmin Schwander stellen sich auf den Standpunkt, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden operierten «fernab der Bürgerinnen und Bürger». Sie handelten willkürlich und unverhältnismässig. Bei ihren Entscheiden liessen die Juristen und Sozialarbeiter gesunden Menschenverstand vermissen.
Seelenruhig lässt sich der KESD-Chef mit den Vorwürfen konfrontieren. Sollten ihn die wiederkehrenden Anwürfe ärgern, verraten es die stahlblauen Augen nicht.
Er räumt ein, dass die KESB und die Berufsbeistände tief in die Privatsphäre der Betroffenen eindringen. «Wir kennen intimste Details aus dem Leben fremder Leute, das irritiert und bewegt mich manchmal selber.» Allerdings sei es anders gar nicht möglich, fundierte Entscheide zugunsten der Betroffenen zu treffen.
Heim selber äussert sich in bestimmten Punkten durchaus kritisch gegenüber der KESB. «Insbesondere in der Kommunikation hat man wiederholt Chancen verpasst», stellt er nüchtern fest. So werde der Fall Flaach die Behörde wohl noch die nächsten zehn Jahre verfolgen. «Wenn so etwas passiert, und die KESB mit Verweis auf das laufende Verfahren einfach schweigt, dann schreiben die Journalisten die Version der unter Schock stehenden Angehörigen und der Kritiker auf. Das schadet letztlich allen.»
2013 wurde der Kindes- und Erwachsenenschutz in der Schweiz neu organisiert. 1500 Laien-Vormundschaftsbehörden wurden von 150 professionellen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden abgelöst, bei denen Sozialarbeiter, Psychologen und Juristen arbeiten. Dieser «überstürzte Wechsel» habe bis heute Folgen, sagt Heim: Die Ressourcen mancher KESB-Stellen seien so knapp bemessen, dass sie die Fälle nur minimal abklären könnten.
Neben dem Studium der Akten und Berichte hören die KESB-Mitarbeiter die Betroffenen während einer Stunde an, bevor sie – mindestens zu dritt – über eine Massnahme entscheiden. «Das ist sehr wenig Zeit, um die betroffenen Menschen und deren Situation zu erfassen.» Nur: Ein besseres System existiert in Heims Augen nicht.
Anders als im alten System regle das heutige Gesetz klar, in welchen Fällen in welcher Form eingegriffen werden muss. «Wir fragen: Was kann dieser Mensch noch selber und wo braucht es Unterstützung?» So würden Personen heute nicht mehr komplett bevormundet, nur weil sie in einzelnen Lebensbereichen Schwierigkeiten haben.
Heim verweist zudem darauf, dass die Berufsbeistände als Korrektiv wirkten: Sie können bis vor Bundesgericht verlangen, dass eine Massnahmen der KESB geändert wird. Auch die Betroffenen selber sowie die Angehörigen haben diese Möglichkeit.
Und nun kommt also die Anti-KESB-Initiative. Er habe nichts dagegen einzuwenden, dass die Frage im Rahmen eines demokratischen Prozesses offen diskutiert werde, sagt Heim. Genau so müsse die Auseinandersetzung in der Schweiz geschehen. «Für die KESB, ja für den Kindes- und Erwachsenenschutz insgesamt, ist dies eine Gelegenheit, bei der Bevölkerung noch mehr Klarheit über Rollen und Aufgaben zu schaffen.»
Sollte die Initiative angenommen werden, gehe die Schweiz nicht unter. Allerdings verlängere sich das Leiden vieler Kinder, die sich in ausweglosen familiären Situationen befänden. Um seinen Job und den seiner Mitarbeiter fürchtet der Mann im karierten Kurzarmhemd nicht. «Sobald sich zeigt, dass die Angehörigen die Situation nicht entschärfen können, landen die Fälle sowieso wieder bei uns auf dem Tisch, leider wohl dann akuter.»
*Name von der Redaktion geändert, Beispiele zum Schutz der Betroffenen leicht verfremdet