Für die meisten Menschen ist das Wort «Grenzschutzagentur» ein Begriff, den sie aus den Medien kennen. Ein abstrakter Begriff, mit dem sie nicht viel verbinden. Was verbinden Sie mit dem Begriff?
Carola Rackete: Der Begriff «Grenzschutz» ergibt für mich gar keinen Sinn. Weil eine Grenze nichts Schützenswertes ist. Was schützenswert wäre, ist das Leben.
Inzwischen ist zweifelsfrei bekannt, dass es an der EU-Aussengrenze immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Doch was hat Frontex damit zu tun?
Rackete: Es gibt unzählige Berichte, die dokumentieren, wie Frontex entweder selbst illegale Pushbacks durchführt oder diese vertuscht. Gerade vergangene Woche berichteten mehrere internationale Medien darüber.
Was sind die konkreten Vorwürfe?
Rackete: Beim Bericht von letzter Woche geht es um einen deutschen Helikopter, der im Frontex-Einsatz über der Ägäis patrouillierte. Die Beamten entdeckten ein Boot mit Flüchtenden, das in griechischem Gewässer trieb. Will heissen: Sie hatten ein Recht darauf, in Griechenland einen Asylantrag zu stellen. Doch die Frontex-Beamten informierten die Griechen über das Boot. Diese setzten die Geflüchteten in türkischem Gewässer auf Gummibooten aus. Stunden später wurden sie dann von der türkischen Küstenwache abgeschleppt.
Wenn solche Fälle so gut dokumentiert sind, wie Sie sagen, warum nimmt die EU diese Menschenrechtsverletzungen ihrer Grenzschutzagentur in Kauf?
Rackete: Das Problem ist, dass es innerhalb der EU keine unabhängige Behörde gibt, welche Frontex kontrolliert. Es gibt zwar immer wieder Stimmen, die sich dafür einsetzen, die Zustände bei der Frontex zu verbessern. Das Europäische Parlament hat einen Teil des Frontex-Budgets für 2022 eingefroren und verlangt, dass die Agentur den Schutz der Grundrechte verstärkt und einen Mechanismus zur Meldung schwerwiegender Vorfälle einführt. Auch die EU-Antibetrugsbehörde Olaf hat gegen Frontex ermittelt und einen Bericht erstellt.
Aber?
Rackete: Solche Massnahmen bleiben ohne Konsequenzen. Der Olaf-Bericht ist geheim. Nicht mal das EU-Parlament darf den lesen.
Wäre das Problem mit einer Reform von Frontex und einer unabhängigen Kontrollstelle denn gelöst?
Selam Habtemariam: Frontex ist nur Teil eines grösseren Problems, das in seiner Gesamtheit angegangen werden muss. Sie ist ein Instrument, die Menschen im globalen Süden zu kontrollieren und auszubeuten.
Rackete: Frontex lässt sich nicht reformieren. Sie muss abgeschafft werden. Weil sie eine rassistische Grenzpolitik umsetzt.
Selbst wenn die Vorlage abgelehnt wird und die Schweiz ihr Frontex-Budget nicht erhöht, wird die Agentur damit nicht abgeschafft.
Selam Habtemariam: Sie haben recht, wir können Frontex jetzt nicht abschaffen. Aber wir können die Aufmerksamkeit nutzen und darauf aufmerksam machen, dass Frontex eine nicht reformierbare Institution ist. Uns geht es mit dem Referendum in erster Linie darum, das Thema in den Fokus zu rücken und eine Diskussion anzustossen.
Aber ist das nicht Symbolpolitik, die mit der Realität nichts zu tun hat?
Selam Habtemariam: Das Sterben im Mittelmeer ist Realität.
Rackete: Das Referendum in der Schweiz ist für mich ein wichtiger Baustein in einem grösseren, europäischen Gefüge. Der Druck auf Frontex muss sich von allen Seiten erhöhen. Die Schweiz hat hier die Möglichkeit, etwas Wichtiges in Gang zu bringen. Sie kann als gutes Beispiel vorangehen und sagen, dass diese katastrophalen Zustände an der EU-Aussengrenze nicht mehr hingenommen werden.
Gegnerinnen des Referendums argumentieren, solange man Teil von Frontex ist, könne man sich besser für den Schutz von Menschenrechten starkmachen.
Selam Habtemariam: Was für eine zynische Bemerkung, angesichts der Tatsache, dass Menschen ertrinken, geschlagen oder gefoltert werden. Die Schweiz hatte 20 Jahre lang Zeit, sich bei der Frontex für Menschenrechte einzusetzen. Und hat es doch nicht gemacht.
Führt eine Budget-Kürzung und Schwächung der Frontex nicht automatisch zu einer Stärkung von lokalen Grenzschützern, deren Praxis noch viel problematischer und willkürlicher ist?
Rackete: Ich erkläre das mit einem Beispiel: Im zentralen Mittelmeer hat Frontex seit einiger Zeit keine eigenen Rettungsschiffe mehr, nur noch eine Luftaufklärung. Sobald sie ein Flüchtlingsboot entdecken, informieren sie die libyschen Milizen, die mit ihren Schiffen losfahren und die Leute zurückschleppen. Selbst wenn sich diese bereits in der maltesischen Such- und Rettungszone befinden.
Ohne Frontex wüssten die Libyer also gar nicht, wo sich die Flüchtlingsboote befinden?
Rackete: Genau. Die Libyer haben nämlich keine eigene Luftaufklärung und fahren auch nicht aufs Meer, um zu patrouillieren. Das heisst also, ohne diesen wichtigen Baustein Frontex würden die Rückführungen nach Libyen komplett zusammenbrechen.
Die Schweiz ist als Nicht-EU-Land abhängig von guten bilateralen Beziehungen. Dazu gehört, dass auch sie ihren Beitrag leistet. Warum sollte die Schweiz diese Beziehungen mit einem Alleingang gefährden?
Selam Habtemariam: Es gibt immer Spielraum für Verhandlungsmöglichkeiten. Wichtig ist, dass der politische Wille da ist, der Gewalt und dem Sterbenlassen an der EU-Aussengrenze etwas entgegenzusetzen. Die Gesetze wurden von Menschen geschrieben. Wenn sie schlecht sind, dann können wir sie auch verändern.
Kritiker sagen, bei einem Nein zur Vorlage würde die Schweiz aus dem Schengen-Dublin-Abkommen geschmissen. Wollen Sie das?
Rackete: Wird die Vorlage abgelehnt, hat die Schweiz 90 Tage lang Zeit, die Bedingungen auszuhandeln. Die EU – einige Politikerinnen haben das bereits gesagt – hat kein Interesse daran, die Schweiz aus dem Schengenraum auszuschliessen. Auch rechtliche Einschätzungen kommen zu diesem Schluss. Davon würde niemand profitieren.
Wie sollte Ihrer Meinung nach ein internationales Grenzabkommen gestaltet werden?
Rackete: Ich wünsche mir eine Bewegungsfreiheit für alle Menschen, so wie das für uns im Schengenraum bereits möglich ist. Natürlich ist es illusorisch, zu sagen, dass wir morgen keine Grenzen mehr haben. Doch wir müssen sie schrittweise durchlässiger machen und abbauen. Vor allem brauchen wir sichere und legale Fluchtwege für Menschen. Sie sollen nicht erst an einer EU-Aussengrenze ein Asylgesuch stellen dürfen. Gerade der Ukraine-Krieg zeigt, dass es möglich ist, Flüchtende wohlwollend aufzunehmen.
Aber die tausenden Geflüchteten aus der Ukraine zeigen auch, wie schnell man an die Kapazitätsgrenzen kommt. Es braucht Unterkünfte, Sozialhilfe, Integrationszulagen, et cetera.
Selam Habtemariam: Wir müssen auch auf die Ursachen schauen, welche die Menschen auf die Flucht zwingen. Es ist der Klimawandel, wirtschaftliche Probleme, internationale Organisationen wie die WTO, Weltbank oder der IWF, die ihre finanzielle Macht missbrauchen und Ländern Kredite geben, die sie nie zurückbezahlen können.
Diese Ursachen lassen sich nicht von heute auf morgen lösen ...
Selam Habtemariam: Ja, weil wir nicht fähig sind, uns eine Weltordnung ausserhalb der kapitalistischen Logik vorzustellen. Die Realität ist, dass das jetzige System auf Herrschaft, Unterdrückung und Ungleichheit beruht. Für einige wenige auf der Welt mag das gut sein. Aber für die Mehrheit ist es das nicht. Wenn wir die Probleme bei den Wurzeln anpacken wollen, braucht es einen fundamentalen Wandel.
Was für eine Maulheldin. Doch mol 🤦🏻♂️