Schweiz
Frontex-Referendum

4 Aussagen zum Frontex-Referendum im Faktencheck

Am 15. Mai stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über höhere Beiträge an die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex ab.
Am 15. Mai stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über höhere Beiträge an die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache Frontex ab. bild: gettyimages

Droht das Schengen/Dublin-Aus? 4 Aussagen zum Frontex-Referendum im Faktencheck

Wenn die Schweiz nicht mehr Gelder für den Schutz der EU-Aussengrenzen spricht, ist das Schengen/Dublin-Abkommen gefährdet. Doch stimmt das? Vier Aussagen zum Frontex-Referendum im Faktencheck.
17.04.2022, 14:3917.04.2022, 16:06
Helene Obrist
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Am 15. Mai stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über das Frontex-Referendum ab. Im Vorfeld der Abstimmung haben wir vier Aussagen überprüft.

>>> Alle Details zum Frontex-Referendum findest du hier.

«Die Schweiz kann frei entscheiden, mit wie viel Geld und Personal sie sich an Frontex beteiligt.»

Diese Aussage ist falsch.

Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, ist ein Instrument des Schengen-Abkommens, bei dem auch die Schweiz dabei ist. Die Schweiz muss sich, wie alle anderen 26 Mitglieder, an Frontex finanziell und personell beteiligen. Die Höhe der Beiträge an Frontex hängt vom Bruttoinlandsprodukt ab.

Ist ein Frontex-Ausbau beschlossen, müssen alle Schengen-Mitglieder auch nachziehen und mehr Gelder sprechen – auch die Schweiz.

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Bild: watson

«Kommt das Frontex-Referendum zustande, wird das Schengen/Dublin-Abkommen automatisch beendet.»

Diese Aussage ist zwar im Kern richtig, greift aber zu kurz.

Staaten, die beim Schengen-Abkommen dabei sind, müssen auch Weiterentwicklungen mittragen. Wer nicht mitzieht, dem droht ein Ausschluss aus dem Abkommen. Es gibt aber eine Ausnahme.

Wenn die Schweiz mit dem «Gemischten Ausschuss Schweiz-EU» innert 90 Tagen eine andere Lösung findet, bleibt das Abkommen in Kraft. Zum «Gemischten Ausschuss» gehört die EU-Kommission und alle Mitgliedstaaten der EU. Der Entscheid, dass die Schweiz weiterhin beim Abkommen dabei ist, müsste aber einstimmig fallen. Wenn das nicht passiert, wird das Schengen-Abkommen nach weiteren drei Monaten automatisch beendet.

Fällt das Schengen-Abkommen, würde das automatisch ein Ende von Dublin bedeuten, weil die beiden Abkommen rechtlich miteinander verknüpft sind.

Sollte das Schweizer Stimmvolk beschliessen, dass der Bund die Frontex-Gelder nicht erhöhen soll, steht das Schengen/Dublin-Abkommen tatsächlich auf der Kippe. Ausser, die Schweiz findet zusammen mit dem «Gemischten Ausschuss» eine andere Lösung. Ob sich eine solche finden lässt, ist schwierig zu beurteilen. Bislang hat die Schweiz alle Schengen-Weiterentwicklungen übernommen.

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«Ein Ende des Schengen/Dublin-Abkommens hätte auf die Schweiz kaum Auswirkungen.»

Diese Aussage ist falsch.

Gemäss Bundesrat hätte das Ende der Schengen/Dublin-Zusammenarbeit «weitreichende Folgen» für die Schweiz. Besonders betroffen wären der Personen- und Warenverkehr, der Asylbereich sowie die Sicherheit.

Das Schengen/Dublin-Abkommen kurz erklärt
Schengen/Dublin ist eine Zusammenarbeit europäischer Staaten in den Bereichen Justiz, Polizei, Asyl und Visa. Die Grundidee war es, dass der Reiseverkehr zwischen den europäischen Ländern vereinfacht wird und dennoch sicher bleibt. Mit Schengen wurden die Personenkontrollen zwischen den Schengen-Staaten grundsätzlich aufgehoben. Dublin bezeichnet die Zusammenarbeit im Bereich der Asylpolitik und sorgt dafür, dass eine Person nicht in mehreren Ländern gleichzeitig ein Asylgesuch stellen kann.

Die Schweiz nimmt seit 2008 an dieser Zusammenarbeit teil.
  • Personen- und Warenverkehr: Ohne Schengen/Dublin-Abkommen müssten die Nachbarstaaten der Schweiz an ihren Grenzen systematische Kontrollen durchführen. Wer nach Deutschland, Frankreich, Italien oder Österreich ein- oder ausreisen wollte, würde folglich an der Grenze kontrolliert werden. Täglich überqueren 1,7 bis 1,2 Millionen Fahrzeuge die Schweizer Grenzen. Zu Stosszeiten könnte eine solche Zollkontrolle zu längeren Wartezeiten und Stau führen.

    Fällt das Schengen-Visum, würden zudem Touristinnen und Touristen aus visumspflichtigen Staaten für eine Reise durch Europa einen zusätzlichen Stempel für die Schweiz brauchen. Das hätte sowohl Auswirkungen auf den Tourismus als auch auf den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort.
Personen verschiedener Organisationen reichen ein Referendum gegen die Finanzierung der Grenzschutzagentur Frontex ein, am Donnerstag, 20. Januar 2021, in Bern. (KEYSTONE/Peter Schneider)
Personen verschiedener Organisationen reichen das Referendum gegen die Finanzierung der Grenzschutzagentur Frontex ein. Bild: keystone
  • Asylbereich: Durch die Dublin-Zusammenarbeit dürfen Migrantinnen und Migranten nur in einem europäischen Land einen Asylantrag stellen. Fällt das Abkommen, könnten die Asylanträge in der Schweiz ansteigen, weil Migrantinnen und Migranten, die bereits in Europa ein Asylgesuch gestellt haben, ein zweites in der Schweiz einreichen könnten.

    Nicht nur die Anzahl Asylgesuche könnte zunehmen, sondern auch die Anzahl Migrantinnen und Migranten. Denn aktuell überstellt die Schweiz deutlich mehr Personen in andere Dublin-Staaten, als sie selbst von diesen übernimmt.​
  • Sicherheit: Durch die Schengen/Dublin-Zusammenarbeit haben die Schweizer Behörden zudem Zugriff auf das europäische Fahndungssystem SIS und weitere EU-Informationssysteme. Ohne Abkommen wären sicherheitsrelevante Informationen nur Bruchstückhaft zugänglich (über Interpol oder bilaterale Polizeizusammenarbeit).

    Eine Schweiz ohne Schengen/Dublin würde anders aussehen, als wir sie heute kennen. In einem Bericht von 2018 hielt der Bundesrat zudem fest, dass der Wegfall des Abkommens die Schweizer Volkswirtschaft jährlich mehrere Milliarden kosten würde.

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«Frontex wendet Gewalt an und verstösst gegen Menschenrechte.»

In der Theorie ist diese Aussage falsch. Recherchen von Journalistinnen und Journalisten zeigen jedoch etwas anderes.

Aber der Reihe nach: Grundsätzlich muss sich Frontex an die Grundrechte halten. Heisst: Migrantinnen und Migranten, die EU-Raum betreten, haben ein Anrecht auf ein rechtsstaatlich durchgeführtes Asylverfahren.

Überprüft wird die Einhaltung der Grundrechte seit 2011 von einem Konsultationsforum, das die Agentur bei ihrer Arbeit überwacht. In diesem Forum sind NGOs und internationale Organisationen, die Grundrechtsbeobachtende vor Ort schicken, um die Frontex-Einsätze zu überprüfen.

Wer bei Frontex arbeitet, ist verpflichtet, Menschenrechtsverletzungen umgehend zu melden. Gemäss dem Bundesrat seien bislang keine solchen Vorfälle rapportiert worden.

2020 publizierte der «Spiegel» eine Recherche von den EU-Aussengrenzen. Auf Videos ist zu sehen, wie maskierte Männer an der Grenze zu Kroatien Geflüchtete aus der EU prügeln. Auch in Griechenland häuften sich Berichte über unrechtmässige Abschiebungen. In der Ägäis sollen Grenzschützer Boots-Flüchtlinge zurück aufs offene Meer geschleppt und sie ihrem Schicksal überlassen haben. Im Frühjahr 2020 soll an der griechisch-türkischen Grenze gar ein Migrant erschossen worden sein.

Bei einigen dieser Vorfällen soll auch Frontex involviert gewesen sein. Frontex-Beamte sollen sogenannte «Pushbacks» im östlichen Mittelmeer untätig beobachtet und teilweise sogar mitgeholfen haben. Solches Verhalten verstösst nicht nur gegen die UN-Flüchtlingskonvention, sondern gegen die EU-Grundwerte.

FILE - In this Friday, Feb. 28, 2020 file photo, migrants arrive aboard a dinghy accompanied by a Frontex vessel at the village of Skala Sikaminias, on the Greek island of Lesbos, after crossing the A ...
Migranten kommen in Begleitung eines Frontex-Schiffes auf der griechischen Insel Lesbos an, nachdem sie die Ägäis von der Türkei aus überquerten. Medienberichten zufolge kam es zu mehreren Vorfällen, wo Migranten illegal ins Meer zurückverfrachtet wurden. Davon soll auch Frontex gewusst haben. Bild: keystone

Frontex weiss von den Vorwürfen und hat selbst einen Vorfall nördlich der Insel Lesbos in einem Serious Incident Report dokumentiert. Darin heisst es abschliessend, dass die präsentierten Fakten eine mögliche Grundrechtsverletzung stützen würden. Der Bericht zeige aber auch, dass keine Frontex-Schiffe am Vorfall beteiligt waren. Frontex bestreitet bis heute, direkt in Menschenrechtsverletzungen involviert gewesen zu sein.

Die Aussage lässt sich folglich nicht abschliessend als klar wahr oder klar falsch einordnen. Frontex sagt, man halte sich an die Grund- und Menschenrechte, Videos und Bilder zeigen etwas anderes.

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Was gerade an der belarussisch-polnischen Grenze passiert
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Was gerade an der belarussisch-polnischen Grenze passiert
Seit mehreren Tagen sitzen Tausende von Migranten an der Grenze von Belarus zu Polen fest.
quelle: keystone / leonid shcheglov
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57 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Hüendli
17.04.2022 17:37registriert Januar 2014
Wenn die Frontex-Abstimmungskampagne für mich eines zeigt, ist es die Verlogenheit und ideologische Verblendung der Politik. Ging es um die Bilateralen (PFZ/Zuwanderungs-/Durchsetzungs-/Begrenzungsinitiative), war eines der Hauptargumente von Links zurecht stets die aut. Kündigung mit Guillotine. Nun aber, da das Thema der SP nicht in den Kram passt, übernimmt man ohne Rot (pun not intended) zu werden die seinerzeitige Auslegung der SVP, dass man innert dreier Monate dann schon eine Verhandlungslösung finden werde. Man kann gegen Frontex sein, dann aber bitte der Basis reinen Wein einschenken!
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Beta Stadler
17.04.2022 17:29registriert Mai 2020
Das wir für den Krümmungsindex einer Banane keine EU brauchen ist klar, aber bei Themen wie Migration und Einwanderung ist eine Zusammenarbeit einfach unabdingbar und da muss halt auch die Schweiz ihren Beitrag leisten.
Dass man dabei Frontex auf die Finger schaut ist ebenso klar wie zwingend. Aber statt zu jammern könnte sich die Schweiz ja auch hier mal hervortun mit Kontrollen und Investigativjournalismus. Gerade linke EU-Befürworter argumentieren ja sonst auch immer mit dem Argument "Mitmachen heisst Mitbestimmen". Sind halt ebenso Wendehälse wie die bürgerlichen...
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HartinderHard
17.04.2022 17:47registriert Mai 2019
Jetzt müssen halt mal die Linken wegen der EU in den sauren Apfel beissen, das kommt andersrum fast häufiger vor. Am Schluss lohnt es sich einfach nicht wegen "kleineren" Sachen aus dem ganzen Abkommen auszusteigen. Wies sonst raus kommt sah man ja bei der Personenfreizügigkeit: Die Freizügigkeit gibts immer noch, aber die Schweiz wurde aus vielen für sie vorteilhaften Abkommen ausgeschlossen.
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