Schweiz
Deutschland

So kriminell schätzt Expertin Rockergruppen wie Hells Angels ein

Mitglieder der Hells Angels stehen vor dem Gerichtsgebaeude, waehrend dem Prozess um die Auseinandersetzung der Motorradclubs Hells Angels und Bandidos, am Montag, 30. Mai 2022, in Bern. (KEYSTONE/Str ...
Mitglieder der Hells Angels stehen vor dem Gerichtsgebäude in Bern. Bild: keystone

«Es ist nicht jedes Mitglied der Hells Angels kriminell. Aber es gibt schwarze Schafe»

Seit Beginn des Rocker-Prozesses in Bern spielen sich vor dem Gerichtsgebäude wüste Szenen ab. Bettina Zietlow forschte in Deutschland zu Rockerkriminalität. Im Interview erklärt sie, warum die Motorradclubs auch gewalttätig gegeneinander vorgehen.
02.06.2022, 20:0505.06.2022, 15:02
Helene Obrist
Folge mir
Mehr «Schweiz»

Frau Zietlow, in der Schweiz sind die Rockergruppen Hells Angels und Bandidos gerade wegen eines Prozesses in aller Munde. Was sind denn überhaupt Rockergruppen?
Es sind Motorradclubs, die ihren Ursprung in den späten 40er Jahren in den USA fanden. Die Gruppen haben untereinander einen starken Zusammenhalt, treten in Uniform auf und haben ein grosses Freiheitsstreben.

In der Schweiz wird derzeit 22 Mitgliedern der verfeindeten Rockergruppen Hells Angels und Bandidos der Prozess gemacht. Vor dem Gerichtsgebäude bewerfen sich die Mitglieder mit Flaschen und Steinen. Können Sie etwas zu den Schweizer Mitgliedern sagen?
Wir haben im Rahmen unseres Forschungsprojekts auch mit dem Schweizer Rechtsanwalt Valentin Landmann gesprochen. Der Fokus unserer Untersuchung lag aber auf Deutschland.

Bettina Zietlow ist Projektleiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut in Niedersachsen (DE) und forscht zu Rockerkriminalität. Zwischen 2017 und 2019 untersuchte Zietlow die Rockerszene in Deutschland und wertete Daten von über 900 Tatverdächtigen aus. bild: zvg

Um die Rockergruppen ranken sich viele Mythen. Man spricht von harten Kerlen mit grossen Motorrädern, die im grossen Stil mit Waffen, Drogen und Frauen handeln. Einverstanden?
Neben vielen Gesprächen mit Expertinnen und Szenekennern haben wir uns auch Daten und Unterlagen von über 900 Tatverdächtigen angeschaut. Es kam zu zahlreichen Straftaten. Da ging es aber primär um Gewalttaten wie Körperverletzungen. Waffen- und Menschenhandel waren vernachlässigbar. Das hat uns schon überrascht.

Warum?
Weil auch die Polizei häufig von Drogen- und Waffenhandel spricht. Die Daten haben aber etwas anderes gezeigt. Natürlich haben viele Mitglieder von Rockergruppen eine hohe Affinität zum Rotlichtmilieu. Sie arbeiten beispielsweise im Sicherheitsdienst oder besitzen ein Bordell. Aber in Deutschland ist Prostitution legal und somit macht man sich damit auch nicht strafbar.

Das heisst, nicht jedes Mitglied von Rockergruppen pfeift auf das Gesetz?
Nicht jedes Mitglied der Hells Angels oder der Bandidos ist kriminell. Aber es gibt schwarze Schafe.

Gibt es denn Muster? Wann werden Mitglieder kriminell? Und warum?
Das ist sehr individuell. Es gibt Persönlichkeiten mit höherer krimineller Energie, die nicht vor Straftaten zurückschrecken. Es gab beispielsweise einen Fall in Berlin, wo ein führendes Mitglied sehr brutal gegen verfeindete Banden vorging. Verallgemeinern kann man das aber nicht. Einige Polizisten, mit denen wir gesprochen haben, kritisierten aber, dass man sich in den Clubs zu wenig von kriminellen Mitgliedern distanziere.

Sie haben auch direkt mit Mitgliedern der Hells Angels, Bandidos und weiteren Clubs gesprochen. Gab es dabei je Probleme?
Im Gegenteil. Man hatte grosses Interesse daran, seine Seite der Dinge darzulegen. Natürlich brauchte das am Anfang etwas Überzeugungsarbeit, weil viele befürchteten, dass ihre Aussagen dann in einer Schublade verschwinden würden. Wir mussten schon im Detail erklären, was wir wollten, um die Skepsis aus dem Weg zu räumen. Die Mitglieder, mit denen wir gesprochen haben, gaben dann aber bereitwillig Auskunft. Wir waren auch in einigen Clubhäusern zu Besuch.

Das ist doch auch einfach eine gute Gelegenheit, sein Image aufzupolieren?
Klar, naiv waren wir nicht. Die Mitglieder, die mit uns gesprochen haben, übernehmen auch eine bestimmte Rolle im Club. Aber es sind auch nicht alle brutale Straftäter. Viele Mitglieder zelebrieren einfach das Zusammensein unter Männern. Besonders szenekundige Polizisten haben uns gesagt, dass man mit vielen Clubmitglieder problemlos sprechen könne. Und dass diese auch kein Interesse daran hätten, permanent mit der Polizei aneinander zu geraten.

In Deutschland sind einige Ortsgruppierungen und Vereine verboten worden. Dazu gehören auch Ableger der Hells Angels und der Bandidos. Das spricht nicht für ein besonders friedliches Zusammensein.
Nein. Die Versammlung- und Vereinsfreiheit ist in Deutschland ein sehr hohes Gut. Nur wenn Vereine mehrfach gegen das Strafgesetz oder die Verfassung verstossen, kommt es zu einem Verbot. Dafür braucht es einiges. Einige Ortsvereine waren kriminell, worauf sie verboten wurden.

Hat das Verbot irgendetwas bewirkt?
Das Verbot führte in erster Linie dazu, dass man sich landesweit nicht mehr in den Vereinslogos zeigen darf. Auch wenn nur in Hamburg die Ortsgruppe der Hells Angels verboten ist, darf man sich in ganz Deutschland nicht mit der «Hells Angels»-Kutte zeigen. Das hat auf jeden Fall dazu geführt, dass die Rockergruppen viel weniger sichtbar sind. Die Polizei geht auch davon aus, dass die Clubs für einige Mitglieder deswegen an Attraktivität verloren haben. Weil das Auffahren in Lederjacken mit Logo ein grosser Teil der Zusammengehörigkeit war.

In der Westschweiz kam es kürzlich zu einer Schiesserei zwischen einem Mitglied der Bandidos und den Hells Angels. Wie sieht es in Deutschland zwischen rivalisierenden Clubs aus?
Es kam in der Vergangenheit zu Auseinandersetzungen, aktuell ist es aber sehr ruhig.

Was ist der Grund für diese gewalttätigen Auseinandersetzungen?
Da gibt es mehrere. Einige Clubmitglieder sagten uns, dass einige Rivalitäten persönliche Gründe hatten. Dass beispielsweise ein Mitglied der Hells Angels einem Mitglied der Bandidos die Freundin ausgespannt hat. Da ging es um persönliche Rache. Aber natürlich spielt auch territoriale Vormacht eine Rolle. Wenn es einen Ortsverein der Hells Angels gibt, dann dürfen sich die Bandidos nicht am selben Ort niederlassen. Denn die Gruppenzugehörigkeit ist extrem wichtig. Das stiftet Identität. Das kennen wir ja auch bei verschiedenen Fussballvereinen der gleichen Stadt. Da sind die Rivalitäten untereinander jeweils viel grösser als mit einem Club aus der Nachbarstadt.

Mitglieder der Bandidos stehen vor dem Gerichtsgebaeude, waehrend dem Prozess um die Auseinandersetzung der Motorradclubs Hells Angels und Bandidos, am Montag, 30. Mai 2022 in Bern. (KEYSTONE/Stringer ...
In Deutschland sind die Kutten der Bandidos und Hells Angels verboten. Wer öffentlich damit auftritt, macht sich strafbar. Bild: keystone

Geht es nicht auch ums Business? Dass ein Zweitclub einem das Geschäfts streitig machen könnte?
So sieht es auch die Polizei. Sie vermutet, dass es häufig um die Verteidigung der Geschäftsfelder geht. Wenn man also beispielsweise in einer Stadt einschlägige Clubs mit Drogen versorgt, alles versucht, um die Konkurrenz fernzuhalten. Zu dieser Theorie haben wir in den untersuchten Unterlagen aber fast nichts gefunden.

Rockergruppen in der Schweiz
Gemäss Fedpol ist der Motorcycle Club (MC) der Hells Angels die einzige Gruppierung, der in der Schweiz eine jahrzehntelange gefestigte Präsenz hat. Die Hells Angels beanspruchen eine übergeordnete Stellung in der Szene. Wer sich über interne Regeln hinwegsetzt, muss mit Repressionen rechnen. Die Bundespolizei beobachtet seit einigen Jahren, dass weitere Rocker- und rockerähnliche Gruppierungen in der Schweiz Fuss fassen wollen. Seit 2021 ist der Bandidos MC mit zwei Ablegern präsent. Es soll sich gemäss Fedpol um eine tiefe zweistellige Zahl von Mitgliedern handeln. Zwischen den Hells Angels und den Bandidos besteht eine Rivalität. Im Zusammenhang mit diesem Konflikt verzeichnete der Bund eine einstellige Anzahl an strafrechtlicher Konflikte. Von den beiden MC gehe ein erhöhtes Gewaltpotenzial aus. Das zeigt insbesondere der Vorfall in Belp, wo Mitglieder der Bandidos ein Clublokal eröffnen wollten und es darauf zu einer Auseinandersetzung mit Mitgliedern der Hells Angels kam. Auch in Genf kam es am vorletzten Wochenende zu einer Auseinandersetzung. Ein Hells Angels- und ein Bandido-Mitglied feuerten mit Pistolen aufeinander. Daneben sind gemäss fedpol Mitglieder dieser Gruppierungen unter anderem in Gewalt- und Vermögensdelikte sowie Widerhandlungen gegen das Waffen- und Betäubungsmittelgesetz involviert.

Hat sich die Mitgliederanzahl der Hells Angels und Co. in den letzten Jahren erhöht?
Das ist schwierig zu sagen, weil viele ja nicht mehr mit ihren Kutten öffentlich in Erscheinung treten dürfen. Nachwuchsprobleme habe man aber nicht, haben uns einige Mitglieder versichert.

Der Rocker-Prozess in der Schweiz dauert noch an. Zu wie vielen Urteilen es kommt, wird sich zeigen. Welche Herausforderungen bei der Strafverfolgung haben Sie gefunden?
Bei Gewalttaten ist man zurückhaltend mit Aussagen. Das ist bei der Aufklärung nicht immer ganz einfach. Ein komplettes Schweigegebot vor Gericht gibt es aber nicht. Das konnten wir nicht nachweisen. Wenn einem Clubmitglied ein Geständnis persönlich etwas brachte, dann hat man das auch abgegeben. Aussagen gegen Clubmitgliedern kommen aber sehr selten vor. Eine saubere Aufklärung aller Straftaten ist insofern nicht immer ganz einfach.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Menschen mit krassen Body-Modifications
1 / 19
Menschen mit krassen Body-Modifications
Plugs in den Ohren kennen wir ja, aber in der Nase?
quelle: imgur
Auf Facebook teilenAuf X teilen
5 Tipps für Schwiizerdüütschlernende
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
67 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Sharkdiver
02.06.2022 22:14registriert März 2017
Wenn man sich das Verhalten der Gangmitglieder vor dem Gerichtsaal anschaut, müsste man dann nicht sagen, nicht alle sind kriminell, es gibt vereinzelte weisse Schafe?
658
Melden
Zum Kommentar
avatar
melvin.
02.06.2022 21:56registriert August 2017
Die HA sind in Zürich von der Polizei mindestens geduldet. Als regulativ der „Unterwelt“.

Doch sie werden zukünftig die selben Probleme bekommen wie ihre „Brüder“ in ganz Europa.

Einheimischer Nachwuchs wird immer seltener und mit der Balkanisierung der Neuankömmlinge werden wir ganz neue Seiten sehen.

Und mit dem laschen Eingreifen seitens der Staatsmacht gegen die Störenfriede beim Prozess, macht man sich lächerlich.
6111
Melden
Zum Kommentar
avatar
bitzliz'alt
02.06.2022 22:13registriert Dezember 2020
… jaja, das sind alles ganz Liebe…🤣🤣🤣 😇
488
Melden
Zum Kommentar
67
IWF rechnet 2024 mit moderat festerem BIP-Wachstum in der Schweiz

Die Schweizer Wirtschaft dürfte laut dem Internationalen Währungsfonds IWF im Jahr 2024 wieder anziehen. Zugleich vergab der IWF im jährlich durchgeführten Länderexamen der Schweiz gute Noten zur Geld- und Haushaltspolitik. Wichtige Fragestellungen gilt es aber noch zur Regulierung der Megabank UBS zu lösen.

Zur Story