Mit ihrer Reise, die sie aus der Illegalität bringen sollte, musste eine Tibeterin das Gesetz brechen. Denn eigentlich hätte sie nicht einmal den Kanton verlassen dürfen. Das Asylgesuch in der Schweiz war längst abgelehnt, im Aargau lebte sie von Fr. 7.50 Nothilfe am Tag und mit der quälenden Ungewissheit. Sie hätte ausreisen müssen, konnte aber nicht, weil ihr die entsprechenden Papiere fehlten. Die Flucht nach Frankreich war für die 46-Jährige eine Flucht aus der Perspektivlosigkeit.
Das Risiko zahlte sich aus. Im November 2016 stellte sie im Nachbarland einen Asylantrag, bereits einen Monat später wurde ihr dort gewährt, was ihr in der Schweiz verwehrt blieb: die Anerkennung als Flüchtling. Dies zeigt ein offizielles Dokument der französischen Behörden, das der «Aargauer Zeitung» vorliegt:
Begründet wird der Entscheid mit der Genfer Flüchtlingskonvention, wonach als Flüchtling gilt, wer sich «aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausserhalb seines Heimatlandes befindet».
Warum Frankreich die Situation der Tibeterin anders beurteilte als die Schweiz, ist unklar. Eine Anfrage bei der französischen Asylbehörde zu den Hintergründen des Entscheids blieb unbeantwortet.
Die Frau aus dem Aargau ist nicht die Einzige, die nach Frankreich flüchtete, um dort ein neues Asylgesuch einzureichen. Tibeter-Organisationen in der Schweiz gehen von rund 100 abgewiesenen Asylsuchenden aus. «Eine genaue Erhebung der Anzahl Personen, die nach Frankreich gingen, und der Anteil jener, die Asyl erhalten haben, fehlt jedoch», sagt Jens Burow, Berater der Tibetischen Sans-Papiers-Gemeinschaft.
Benno Straumann kennt die Tibeterin persönlich. Er unterrichtet in Aarau Asylsuchende und für ihn ist klar, was hinter dem Entscheid der französischen Behörden steckt: «Frankreich geht offenbar davon aus, dass die Menschenrechte in der Schweiz nicht gewährleistet sind.» Anders lasse sich nicht erklären, wieso die Frau nicht zurückgeschickt worden sei, obwohl sie im Gespräch auf ihr abgelehntes Asylgesuch in der Schweiz hingewiesen habe.
Straumann wandte sich mit einem Brief an Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Er wollte wissen, warum Frankreich Asyl erteilte, anstatt eine Rückführung in die Schweiz vorzunehmen. Gemäss Dublin-Abkommen hätte Frankreich das tun können. Das Abkommen regelt, wer für ein Asylgesuch zuständig ist. Ziel der Vereinbarung ist, dass nur ein Staat ein Gesuch behandelt, damit abgewiesene Asylsuchende nicht in mehreren europäischen Ländern einen Antrag stellen können.
Aus Bern antwortete Staatssekretär Mario Gattiker stellvertretend für Bundesrätin Sommaruga. Der Kopie des Entscheids aus Frankreich sei zu entnehmen, «dass einer Person mit tibetischem Namen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde», schrieb er. Und weiter: «Weshalb die französischen Behörden in diesem Fall zu einer anderen Gefährdungseinschätzung gekommen sind als das Staatssekretariat für Migration, kann dieser kurzen Verfügung allerdings nicht entnommen werden.»
Das Dublin-Abkommen zwingt die Mitgliedstaaten zwar zur Übernahme eines Asylverfahrens, wenn ihre Zuständigkeit gegeben ist. Es hindert die Staaten aber nicht, freiwillig ein Verfahren durchzuführen, auch wenn sie es abtreten beziehungsweise darauf verzichten könnten. «Es gibt ein Selbsteintrittsrecht», erklärt Peter Uebersax, Titularprofessor für Öffentliches Recht und Öffentliches Prozessrecht an der Universität Basel. Das heisst, jeder Staat kann selber entscheiden, ob er ein Asylgesuch trotz Negativentscheid in einem anderen Land prüfen möchte.
Es sei durchaus möglich, dass Frankreich in Bezug auf Asylsuchende tibetischer Ethnie eine andere Praxis verfolge als die Schweiz. Die Kriterien, wann eine Person als Flüchtling gilt und wann sie Asyl erhält, sind national geregelt. «Sie haben nichts mit dem Dublin-Abkommen zu tun», sagt auch Sanija Ameti, Assistentin am Lehrstuhl für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Staatsphilosophie der Uni Zürich. Dies bedeute, dass Frankreich unter Umständen eine Person als Flüchtling qualifiziert und die Schweiz nicht, «weil sie den Flüchtlingsbegriff und die Asylvoraussetzungen im Asylgesetz restriktiver definiert».
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) will das Vorgehen ausländischer Behörden nicht beurteilen. An der eigenen, nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vor vier Jahren verschärften, Praxis hält der Bund fest. «Personen tibetischer Ethnie, welche unglaubhafte Angaben zu ihrer Sozialisierung in der Volksrepublik China machen, erhalten in der Regel einen negativen Asylentscheid und werden weggewiesen», sagt Sprecher Lukas Rieder.
Ende 2017 hatten 266 chinesische Staatsangehörige einen Wegweisungsentscheid. Gemäss SEM handelt es sich vorab um Personen tibetischer Ethnie. Sie wären verpflichtet, die Schweiz zu verlassen. Rieder räumt allerdings ein, dass die Wegweisung häufig schwierig zu vollziehen sei. Grund: Die Schweiz weist keine Personen nach China aus, weil ihnen dort Menschenrechtsverletzungen drohen. Das SEM stellt sich jedoch auf den Standpunkt, dass die Asylsuchenden tibetischer Ethnie zuvor in Nepal oder Indien gelebt haben und dorthin zurückkehren können. Allerdings stellen diese Behörden in der Regel keine Reisepapiere aus, was eine Ausreise verunmöglicht.
Professor Uebersax stellt diese Praxis infrage. «Mich stört, dass die Schweiz so Sans-Papiers schafft.» Tibeterinnen und Tibeter mit einem Wegweisungsentscheid würden in die Illegalität getrieben, ihnen würden Strafverfahren und Gefängnisstrafen wegen illegalen Aufenthalts drohen, obwohl eine Ausreise praktisch nicht möglich sei. Das sei keine Lösung und auf die Dauer unbefriedigend. «Die Länder verschärfen ihr Asylrecht, um für Flüchtlinge möglichst unattraktiv zu sein, und nehmen bewusst in Kauf, dass diese in ein anderes Land gehen.»
Der AZ sind mehrere Fälle von Tibeterinnen im Aargau bekannt, die mit Eingrenzungen auf den Kanton und Strafbefehlen wegen rechtswidrigen Aufenthalts zur Rückreise gedrängt werden sollten. Drei von ihnen müssen im März vor dem Bezirksgericht Kulm erscheinen. Eine der Frauen ist die Tibeterin, die inzwischen in Frankreich lebt. Kehrt sie für den Prozess in die Schweiz zurück, könnte sie die neu gewonnene Freiheit bereits wieder verlieren. Den drei Beschuldigten droht eine Gefängnisstrafe. (aargauerzeitung.ch)