Mindestens zehn Jahre lang wird Mitholz im Berner Oberland ein «Geisterdorf» sein. Die Einwohner müssen ihre Häuser verlassen, damit das ehemalige Munitionsdepot in der Gemeinde geräumt werden kann. Wie Mitholz ist es auch anderen Dörfern und Weilern in der Schweiz ergangen – die meisten von ihnen mussten permanent einem Stausee weichen. Eine Übersicht.
Das Dorf im Bündner Oberhalbstein ist nicht mehr, was es einmal war. Die Ruinen von Kirche und Schulhaus, 29 Wohnhäusern und 52 Ställen des historischen Marmorera liegen seit 1954 unter den Fluten des Lai da Marmorera. Das Dorf wurde über dessen Ufer neu aufgebaut, aber es hat bedeutend weniger Einwohner als das alte Marmorera, das dem Energiehunger der Stadt Zürich zum Opfer fiel. Diese erhielt 1948 eine Konzession für einen Stausee. Dabei sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, heisst es – die Haus- und Landbesitzer, die ihre Unterschrift unter die deutschsprachigen Verträge setzten, hätten nur Rätoromanisch und Italienisch gesprochen.
Sicher ist, dass die Umsiedlung der rund 100 Einwohner zu starken Verwerfungen in der Dorfgemeinschaft führte. Es kam zu Zwangsenteignungen, viele Einwohner zogen weit weg. Immerhin konnten die Dorfbewohner durchsetzen, dass auch ihr Friedhof nach Neu-Marmorera verlegt wurde – ursprünglich hätten die Toten unter einem Betondeckel auf dem Grund des Stausees bleiben sollen. Das Schicksal des Dorfes ist im Mystery-Thriller «Marmorera» (2007) thematisiert worden.
Heute liegt das Dorf Innerthal am nordöstlichen Ufer des Wägitalersees. Dieser Stausee ist der Grund dafür, dass der 1397 erstmals erwähnte Ort nicht mehr an seiner ursprünglichen Stelle liegt – als von 1922 bis 1925 die 111 Meter hohe Talsperre errichtet wurde, musste Innerthal weichen. Dies traf das Dorf hart; die Einwohnerzahl sank von 369 um 1920 auf nur noch 223 zehn Jahre später. Die Kirche wurde gesprengt und am neuen Ort ein Neubau errichtet. Das Bade- und Kurhaus, das mitten auf dem Talgrund stand, fiel dem See dagegen endgültig zum Opfer. Der fischreiche Speichersee ist dafür Grundlage für Arbeitsplätze beim Kraftwerk Wägital und in der Fischerei.
Des einen Freud, des andern Leid: Weil der geplante Stausee im Urserental wegen des Widerstands der lokalen Bevölkerung nicht erstellt werden konnte, wichen die Centralschweizerischen Kraftwerke (CKW) auf die Göscheneralp aus, eine der höchstgelegenen Dauersiedlungen in der Schweiz. Die wenigen Bewohner der Alp nahmen das Angebot der Kraftwerksbetreiber vor allem deshalb an, weil sie durch den Lawinenwinter von 1951 in wirtschaftliche Nöte geraten waren. Nach der Fertigstellung des Staudamms im Jahr 1960 verschwand die Siedlung Hinteralp im Göscheneralpsee. Schulhaus, Kapelle, Hotel, Gasthaus, zehn Wohnhäuser und 28 Ställe waren zuvor abgerissen worden, das Schulhaus wurde in Göschenen wieder aufgebaut. 37 Einwohner mussten umsiedeln, die meisten zogen in den Weiler Gwüest um. Manche von ihnen hatten sich nur während des Winters und während der Heuet in Hinteralp aufgehalten und hatten bereits einen Wohnsitz in Gwüest.
Nachdem die Gemeindeversammlung in Einsiedeln 1926 den Verträgen mit dem Etzelwerk zugestimmt hatte, begann 1932 der Bau einer Staumauer an der Sihl. Das Hochtal wurde 1937 geflutet; der Sihlsee – der flächenmässig grösste Schweizer Stausee – entstand. Entsprechend viele Bewohner der Weiler Willerzell, Euthal, Gross und Steinbach waren von dem Projekt betroffen: Rund 500 wohnten auf dem Gebiet, das überflutet wurde, und mussten umziehen; etwa 1300 andere – meist Bauern, die ihr Land verloren – wurden sonst in Mitleidenschaft gezogen.
As stärksten betroffen war Willerzell, wo allein 25 Häuser und etwa 40 Ställe verschwanden. Insgesamt mussten dem neuen See 93 Wohnungen, 124 Scheunen, 179 Torfhütten und 14 weitere Gebäude wie Sägereien, Kapellen oder Brücken weichen. 55 Bauernhöfe versanken in den Fluten. 107 Familien mussten ihre angestammte Heimat verlassen. Einige von ihnen wanderten in die USA aus. Andere konnten in der Nähe bleiben: Im Rahmen eines Umsiedlungsprojekts entstanden 30 neue Bauernbetriebe und Wohnungen für 175 Personen.
Der Zervreilasee, ein Stausee in der Bündner Gemeinde Vals, hat seinen Namen vom Dörfchen Zervreila. Die ganzjährig bewohnte Maiensäss-Siedlung auf 1800 Meter Höhe liegt heute unter den Wassermassen des Speichersees, der 1957 entstand. Die Bewohner der Siedlung im Talkessel vor dem Zervreilahorn hatten sich gegen das Staudammprojekt gewehrt, wurden aber von den Valser Stimmberechtigten 1948 überstimmt. Sie verkauften ihr Land an die Kraftwerksgesellschaft.
Zervreila wurde nicht wieder aufgebaut. An das verschwundene Dörfchen erinnert immerhin noch das Restaurant Zervreila, das 1960 beim Staudamm gebaut wurde: Es entstand aus Holz, das von den Häusern der versunkenen Siedlung stammt. Die 151 Meter hohe Staumauer – vornehmlich deren Inneres – hat übrigens den Architekten Peter Zumthor beim Entwurf der Therme Vals inspiriert.
1948 wurde die Bogenstaumauer Rossens fertiggestellt, deren Bau 1944 begonnen hatte. In der Folge entstand der Greyerzersee (Lac de la Gruyère), der zweitgrösste künstliche See und mit 14 Kilometern der längste Speichersee der Schweiz. 15 Siedlungen mit insgesamt 64 Gebäuden versanken im Wasser, rund 150 Bewohner mussten ihre Häuser verlassen. Der neue See überflutete auch die historische Brücke über die Saane aus dem Jahr 1544, den Pont du Thusy. Damit wurden Gemeinden auf beiden Seiten der Saane voneinander getrennt, was auch bestehende Beziehungen unter den Anwohnern erschwerte.
Der See war zu Beginn bei der Bevölkerung in der Region nicht sonderlich beliebt; es gab Legenden über Wasserwirbel, die Schwimmer auf den Grund des Sees gezogen hätten. Heute ist die Insel von Ogoz (Île d’Ogoz) mit zwei Burgruinen und einer Kapelle eine Touristenattraktion. Die Insel, einst eine Halbinsel im Flusslauf der Saane, entstand durch den Stausee. Bei niedrigem Wasserstand kann man sie wieder zu Fuss erreichen.
Oberriet ist ein Ortsteil der Gemeinde Eglisau im Kanton Zürich. Nachdem zwischen 1915 und 1920 das Kraftwerk in Rheinsfelden gebaut wurde, staute sich der Rhein und der Pegel stieg um rund acht Meter. Dies führte zu einer tiefgreifenden Veränderung des Ortsbildes: Neben 15 Häusern in der Rheingasse in Eglisau mussten 15 von 17 Häusern in Oberriet dem Wasser weichen; lediglich zwei höhergelegene Gebäude blieben stehen. Das gleiche Schicksal traf die gedeckte Holzbrücke, die 1919 durch die heutige Steinbrücke ersetzt wurde. Mehr als 80 Anwohner in Oberriet mussten umgesiedelt werden. Um eine Verbindung der verbliebenen zwei Gebäude mit dem Städtchen zu schaffen, legte man eine neue Strasse an.
Das im unteren Bergell gelegene Bündner Dorf Bondo, das seit 2010 zur Gemeinde Bregaglia gehört, wurde am 23. August 2017 von einem Bergsturz getroffen. Mehrere Häuser im Dorf wurden zerstört, acht Wanderer kamen ums Leben. In den folgenden Tagen und Wochen ereigneten sich weitere Felsabbrüche und Murengänge, die zum Teil ebenfalls Schaden anrichteten. Insgesamt wurden im Tal 140 Bewohner evakuiert und konnten vorerst nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren.
Auf den 14. Oktober wurde die Evakuierung für die am wenigsten gefährdete sogenannte «grüne Zone» in Bondo aufgehoben; 80 Einwohner konnten so nach knapp zwei Monaten in ihre Häuser zurückkehren. Für die gefährdeteren Zonen im Ort wurde die Evakuierung erst Mitte November aufgehoben. Von da an lebten die meisten Einwohner wieder im Dorf. 99 Gebäude wurden durch die Murgänge beschädigt, davon war rund ein Drittel nicht mehr zu retten. Die Schadensumme wurde auf über 40 Millionen Franken geschätzt. Für den Wiederaufbau kamen durch Spenden beinahe zehn Millionen Franken zusammen.
Vielen dürfte das Schicksal der Dörfer, Weiler und ihren Bewohnern nicht mehr bewusst sein, welche dem Fortschritt – sprich Energiebedarf und Profit – weichen mussten.
Es ist die Schattenseite der vertrauten Seen, welche heute nachhaltige, saubere Energie liefern.
Beim Braunkohleabbau wurden bis heute ebenfalls grosse Gebiete vollkommen umgepflügt, für einen weit schädlicheren Energieträger.
Ebenfalls enorm sind die Veränderungen durch die gigantische Drei-Schluchten-Talsperre.
Die Folgen der ungebremsten Entwicklung werden jedoch noch grösser.