Mitten in der Nacht brach das Unglück über Mitholz herein. Im Munitionsdepot der Schweizer Armee, das sich in der Fluh oberhalb des Dorfes befand, detonierte etwa die Hälfte der 7000 Tonnen dort eingelagerten Munition. Eine der weltweit gewaltigsten menschengemachten nicht-nuklearen Explosionen verwüstete in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947 das Berner Oberländer Dorf.
In den eingestürzten Anlageteilen und im Schuttkegel davor befinden sich schätzungsweise noch rund 3500 Bruttotonnen Munition mit mehreren hundert Tonnen Sprengstoff. Heute hat der Bundesrat bekanntgegeben, dass eine Expertengruppe eine Neubeurteilung der Lage vorgenommen hat. Fazit: Äussere Einwirkungen wie ein Felssturz könnten nach wie vor eine Explosion in der Anlage verursachen.
Eine solche Explosion könnte Schäden in der nahen Umgebung anrichten. Als Auslöser für eine Explosion kommen auch der Einsturz von Anlageteilen oder eine Selbstzündung von verschütteten Munitionsrückständen in Frage. Zuvor hatten Beurteilungen in den Jahren 1949 und 1986 ergeben, dass es bei einer weiteren Explosion im Munitionsdepot nur zu kleinen Schäden käme.
Nun sollen weitere Abklärungen vorgenommen werden, erklärte Bundesrat Guy Parmelin in Mitholz vor den Medien. Eine Arbeitsgruppe soll eine Risikobeurteilung vornehmen und Untersuchungen zur Senkung des Risikos treffen.
Es bestehe aber keine Notwendigkeit, das Dorf Mitholz zu evakuieren oder die Strasse nach Kandersteg zu sperren. Auch die Bahn ist nicht betroffen. Die Grenzwerte für die heute geltenden Regelungen im Umgang mit Risiken würden allerdings nicht eingehalten, sagte Parmelin. Eine Truppenunterkunft und ein Lager der Armeeapotheke, die beide in unmittelbarer Nähe zu den Munitionsrückständen liegen, werden aus Sicherheitsgründen geschlossen.
Am Morgen nach der Explosion präsentierte sich der Ort der Katastrophe wie ein Kriegsgebiet. Die Bilanz war verheerend:
Die Katastrophe hatte sich um etwa 23 Uhr angekündigt, als Flammen aus den Zufahrtsstollen züngelten und kurz danach laute Geräusche – ähnlich wie Lawinendonner – zu hören waren. Eine halbe Stunde vor Mitternacht kam es zu einer ersten Explosion, die eines der Panzertore absprengte und das Stationsgebäude zerstörte. Der Bahnhofsvorstand und sein Sohn fanden dabei den Tod.
Eine zweite, stärkere Explosion folgte fünf Minuten später. Sie wurde vom Schweizerischen Erdbebendienst in Zürich registriert und zerstörte mehrere Gebäude. Die heftigste Detonation ereignete sich zehn Minuten nach Mitternacht. Bis zu 150 Meter hohe Stichflammen schossen aus dem Fels, Gesteinsbrocken und glühende Munitionsteile wurden in den Talkessel geschleudert, Pulverdampf und Rauch beeinträchtigten die Sicht und behinderten die Atmung.
Die aus dem Schlaf geschreckten Dorfbewohner flohen durch dieses Inferno Richtung Kandergrund, zum Teil nur in Unterwäsche und Mantel, einige sogar ohne Schuhe. Manche kamen nicht mehr dazu, zu fliehen – sie wurden in ihren Häusern von Projektilen oder Bomben getötet. Andere traf es auf der Flucht.
Feuerwehr und Rettungskräfte waren machtlos gegen die Brände; zu gefährlich war die Situation aufgrund der ständigen Detonationen von Sprengkörpern und den herumliegenden Blindgängern. So beschränkte man sich darauf, die geflüchteten Dorfbewohner in Sicherheit zu bringen und zu versorgen.
Die Solidarität der Schweizer Bevölkerung mit den schwer getroffenen Dorfbewohnern war gross. Bereits in den nächsten Tagen trafen unzählige Pakete mit Hilfsgütern in Kandergrund ein. Auch Geld wurde gespendet; allein durch die kurz zuvor gegründete Glückskette kamen rund 80'000 Franken zusammen.
Die Armee stellte im Frühjahr 1948 Baracken auf, in denen die obdachlosen Familien unterkamen. Der Wiederaufbau des Dorfes dauerte zwei Jahre. An einigen Häusern – von denen manche dieselbe Jahreszahl tragen – erinnern Inschriften an die Katastrophe.
Das verheerende Unglück hatte jedoch nicht nur für Mitholz Folgen. Da bereits im Mai 1946 ein Munitionslager der Armee detoniert war – bei der Explosion in der Waadtländer Festung Dailly waren zehn Personen gestorben –, wuchs die Beunruhigung über diese Anlagen. Eine Expertenkommission wurde eingesetzt, um das Unglück in Mitholz zu untersuchen – doch deren 1949 veröffentlichter Bericht konnte keine eindeutige Ursache für die Explosion benennen.
Der Bericht übte indes Kritik an der Konstruktion des Munitionslagers. Dieses war 1940 während des Zweiten Weltkriegs in Auftrag gegeben und 1945 fertiggestellt worden. In den sechs 150 Meter langen Munitionskammern lagerten zum Zeitpunkt des Unglücks riesige Mengen an Munition: 700 Eisenbahnwaggons voller Geschosse, wie Verteidigungsminister Karl Kobelt es beschrieb.
Ausserdem waren Zünder und Sprengladungen nicht an getrennten Orten gelagert worden. Die Munitionskammern, die zudem wie Kanonenrohre direkt auf das Dorf ausgerichtet waren, hätten überdies besser voneinander getrennt werden müssen. Die Armee erliess darauf strengere Lagerungsvorschriften und bunkerte die Munition fortan in kleineren Depots.
Unter dem Druck der besorgten Öffentlichkeit versenkte das Militär kurzerhand tausende von Tonnen überalterter Munitionsbestände im Thuner-, Brienzer- und Vierwaldstättersee. Auch 1500 Tonnen Rückstände aus Mitholz wanderten in den Thunersee. Die Frage, wie mit diesen Altlasten umzugehen sei, wurde von den Bundesbehörden ab 2006 untersucht. 2012 kam man zum Schluss, auf eine Bergung zu verzichten.
(dhr/sda)