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«Paare sollen nicht mehr ins europäische Ausland gehen müssen, um sich helfen zu lassen» 

Michael K. Hohl ist überzeugt: Retortenbefruchtungen hätten mit einer Gesetzesänderung mehr Aussicht auf Erfolg.
Michael K. Hohl ist überzeugt: Retortenbefruchtungen hätten mit einer Gesetzesänderung mehr Aussicht auf Erfolg.Bild: Alex Spichale / Aargauer Zeitung
Fortpflanzungs-Experte

«Paare sollen nicht mehr ins europäische Ausland gehen müssen, um sich helfen zu lassen» 

Michael K. Hohl engagiert sich für ein Gesetz, das eine dem modernen Stand der Medizin entsprechende Behandlung ermöglicht. Spezielle Screenings könnten die Chance auf ein gesundes Retortenbaby erhöhen.
03.06.2014, 05:3103.06.2014, 08:26
Mathias Küng / Aargauer Zeitung
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Aargauer Zeitung

Herr Professor Hohl, Sie engagieren sich sehr für die anstehende Debatte zum Fortpflanzungsmedizingesetz im Nationalrat. Warum? 
Michael K. Hohl
: Es geht wirklich darum, ob wir betroffenen Paaren mit Kinderwunsch eine dem modernen Stand der Medizin entsprechende Behandlung zukommen lassen dürfen oder nicht. Wenn der Rat der vorbereitenden Kommission folgt, haben wir die grosse Chance, mit den meisten Ländern in Europa gleichzuziehen. 

Die Präimplantationsdiagnostik (PID) wird aber ja schon vom Ständerat unterstützt. Somit kommt die Schweiz hier doch voran? 
Stimmt, für Paare, bei denen eine familiär bedingte Erbkrankheit befürchtet werden muss, soll PID erlaubt werden. Das ist gut, betrifft aber nur etwa 50 bis 100 Paare. In Schweizer Kinderwunschzentren lassen sich aber jährlich mehr als 6000 Paare behandeln. Durch geringfügige Änderungen in der Vorlage des Bundesrates hätten wir die Möglichkeit, auch ihre Chancen auf ein Kind zu erhöhen. 

Wo liegt denn das zentrale Problem? 
In der Natur der menschlichen Fortpflanzung selbst. Bei der Vereinigung von Spermien und Eizelle wird das Erbgut neu vermischt. Dabei passieren viele chromosomale Fehler. Das heisst, es hat von einem bestimmten Chromosom anstatt zwei Kopien nur eine oder gar drei. Das nennt man Aneuploidie. 98 Prozent der Embryonen mit einer Aneuploidie sterben frühzeitig ab und können sich gar nicht zu einem lebenden Kind entwickeln. 

Was heisst das praktisch für Paare, die Eltern werden wollen? 
Da wir wissen, dass statistisch 70 Prozent der eingepflanzten Embryonen absterben, mussten wir bis heute mindestens zwei bis drei Embryonen einpflanzen, um eine vernünftige Schwangerschaftsrate zu erzielen und die Frau nicht der Belastung von zwei oder mehr Eizellentnahmen und Implantierungen aussetzen zu müssen. Der Negativeffekt davon ist, dass so in 20 Prozent Zwillingsschwangerschaften entstehen, was wir wegen der damit verbundenen Komplikationen eigentlich vermeiden wollen. 

In Ländern wie zum Beispiel Schweden gibt es bei Retortenbefruchtungen aber nur in sechs Prozent der Fälle Zwillinge. Was macht Schweden anders? 
Schweden kennt wie praktisch alle europäischen Länder die sogenannte Dreier-Regel nicht, die leider bei uns immer noch gilt. Dies ist sicher ein Grund, weshalb die Nationalratskommission diese Regel auch aufheben will. Wenn wir künftig alle befruchteten Eizellen anstatt wie bisher nur drei zu Embryonen entwickeln dürfen, sehen wir etwa nach fünf Tagen, welcher von ihnen sehr grosse Entwicklungschancen hat. Es genügt dann, nur einen Embryo einzupflanzen und so Zwillingsschwangerschaften zu verhindern. Das geht aber nicht, wenn Sie nur drei Embryonen haben. 

Anders als der Ständerat will die Nationalratskommission nicht nur bei erblich belasteten Paaren die PID zulassen. Das ist doch in Ihrem Sinn? 
Das will sie, ja, diese aber auf das Aneuploidie-Screening (vgl. Stichwortbox) beschränken. Neuerdings können wir am fünften Tag eine einzelne Zelle entnehmen und einfach testen, ob die Chromosomenzahl Fehler hat oder nicht. Das heisst, man kann so erkennen, ob der Embryo sich zu einem lebensfähigen Menschen entwickeln kann oder später abstirbt. Deshalb ist auch der Test zur Chromosomenzahl nötig. 

Wenn dies erlaubt wird, fürchten viele, so werde die Tür zur Auswahl von Eigenschaften für einen Menschen nach Mass geöffnet. 
Das ist durch den Gesetzestext selbst völlig ausgeschlossen: Mit Aneuploidie-Screening kann man keine Eigenschaften testen und wird es nie können. 

Aneuploidie-Screening: So funktioniert's 
Aneuploidien sind Abweichungen von der regulären Chromosomenzahl. Sie entstehen überwiegend durch Fehlverteilungen der Chromosomen während der Reifeteilung der Eizelle. Die Häufigkeit steigt nach dem 35. Lebensjahr stark an. Bei einer 40-Jährigen sind 50 bis 70 Prozent der reifen Eizellen von einer Chromosomenanomalie betroffen und damit nicht entwicklungsfähig. Mit einer Selektion von Eizellen mit normalem Chromosomensatz soll die Erfolgschance einer Behandlung im Rahmen der Reagenzglasbefruchtung bei Unfruchtbarkeit gesteigert werden – was in der Schweiz heute nicht erlaubt ist. (nch/az)

Sie setzen sich auch für die Zulassung von «Retterbabys» ein. Wird hier nicht der Rubikon überschritten? 
Nein, ich finde, es sollte für die Rettung des Lebens eines erkrankten Geschwisters in seltenen Fällen erlaubt werden. Ohne die Stammzellen aus der Nabelschnur des geborenen «Retterbabys», das sicher nicht nur zu diesem Zweck gezeugt wird, würde es sterben. 

Die Gesetzesrevision sieht nicht vor, die Eizellspende zuzulassen. Das ist unlogisch. 
Nun, die von Nationalrat Jacques Neyrinck eingereichte Initiative fordert genau die Eizellspende. Diese ist für mich eine Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Eizellspende gleich wie die Samenspende zuzulassen. Dank einer solchen Spende könnte heute auch eine Frau ein Kind bekommen, die zum Beispiel nach einer überwundenen Krebserkrankung keine Eizellen mehr produzieren kann. Für sie ist die Eizellenspende die letzte Chance. Das müssen wir zulassen. 

Wenn Ihnen als Mediziner deutlich mehr erlaubt wird, steigert das natürlich auch Ihren Umsatz. 
Glauben Sie? Wann verdiene ich wohl mehr: Wenn wir einer Frau zweimal je zwei Embryonen einpflanzen müssen oder möglichst nur einmal einen Embryo mit besten Chancen? Die Technologien für eine für die Frau emotional und körperlich viel schonendere Vorgehensweise sind da, wir haben sie. Die Fortpflanzungsmedizin macht enorme qualitative Fortschritte. Doch Bern bindet uns in der Anwendung bisher die Hände. 

Jetzt auf

Die Politik schaut sehr genau hin, weil man aus ethisch-moralischen Überlegungen nicht alles Machbare erlauben darf. 
Da haben Sie recht. Artikel 119 der Bundesverfassung besagt, dass man die Eigenschaften eines Menschen nicht beeinflussen darf. Hundertprozentig einverstanden. Und auch ich bin gegen eine Geschlechterselektion. Ich habe in meiner langen Praxis übrigens noch nie ein Paar erlebt, das ein «perfektes» Kind verlangte. Selbstverständlich halten wir uns an die ethischen Grundsätze. Wir werden auch strenger als jeder andere Medizinbereich kontrolliert. Aber darum geht es hier nicht. 

Sondern? 
Nach heutigem Gesetz müssen wir auch einen Embryo mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) einpflanzen. Wenn man das dann während der Schwangerschaft feststellt, entscheiden sich 90 Prozent der Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch. Eins will ich klarstellen: Nicht wir Ärzte entscheiden, was mit dem Trisomie-21-Embryo geschieht, das ist allein der Entscheid der Eltern. Ich bin aber überzeugt, dass die Gesellschaft Verständnis für einen solchen Entscheid hat. Ich bin ganz entschieden der Meinung, dass sich die Gesetzgebung hier der Praxis anzupassen hat, nicht umgekehrt. Zum Wohle all der Paare, die sich so sehr ein Kind wünschen und denen man heute helfen könnte! Der Ständerat hat das abgelehnt, die Nationalratskommission befürwortet es. Auch hier hoffe ich sehr auf die grosse Kammer. 

Wo würden Sie denn in der Fortpflanzungsmedizin die Stoppkelle aufhalten? 
In der Diskussion sehr umstritten sind Leihmutterschaft und Embryonenspende. Ich akzeptiere das Nein der Mehrheit dazu. Doch in der aktuellen Debatte ist das auch nicht das Thema, sondern es geht darum, das Gesetz dem aktuellen Stand des Wissens, des Mach- und ethisch Vertretbaren anzupassen. Damit nicht mehr Hunderte Paare ins europäische Ausland gehen müssen, um sich helfen zu lassen. 

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