Der Kaiser spricht Schweizerdeutsch
Ein französischer Kaiser, der waschechten Thurgauer Dialekt sprechen konnte? Ja, das gab’s! Charles Louis-Napoleon Bonaparte (1808–1873) war im Thurgau aufgewachsen. Ab 1848 war er der erste Präsident der Zweiten Republik und ab 1852 als Napoleon III. Kaiser Frankreichs. 1865 besucht er nochmals die Stätten seiner Jugend im Thurgau. Um offizielle Empfänge zu vermeiden, ist der Kaiser inkognito als «Graf von Pierrefonds» unterwegs.
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Die Thurgauer Zeitung entsendet einen Reporter zum Bahnhof in Konstanz: «Da kam er, zwar etwas gebückten Hauptes, aber sehr gesund und frisch aussehend, wir möchten fast sagen blühend.» Der «blühende» Kaiser Frankreichs weilt vom 18. bis am 21. August auf Schloss Arenenberg. Als er den Thurgau vor 27 Jahren verlassen musste, hatte er beim Abschied gesagt: «Ich scheide mit Schmerzen von euch; wenn ich aber wieder komme, soll Freude walten.» Napoleon III. freut sich nun, die Bodenseeregion, «den Ort der glücklichen Jugendzeit», wiederzusehen.
Kaiser, Kutschen und Kloster
Denn der Kaiser Frankreichs war auf Schloss Arenenberg in Salenstein aufgewachsen. 1815 war er mit seiner Mutter, Hortense de Beauharnais, der Ex-Königin von Holland, in die Schweiz emigriert. Als Verwandte des grossen Kaisers Napoleon Bonaparte waren sie mit dessen Schicksal direkt verknüpft. Nach dem Sturz Napoleons waren Hortense und ihr Sohn gezwungen, Frankreich zu verlassen.
Zuerst logierten sie in Pregny bei Genf; doch die Genfer Behörden versagten ihnen auf Druck des französischen Botschafters den Aufenthalt. Ohne klaren Plan irrten sie mit drei Kutschen umher – eine für sich, eine für ihre Bediensteten und eine für das Gepäck. Für ein paar Tage fanden sie dann im Kloster Einsiedeln Unterschlupf, wofür sie ihr Leben lang dankbar waren.
Schliesslich erlaubten die Behörden den adeligen Asylanten, sich genug weit entfernt von der Landesgrenze zu Frankreich niederzulassen. Hortense mietete zunächst in Konstanz das Anwesen Seeheim. Ihr Sohn Louis-Napoleon besuchte fortan die gewöhnliche Bürgerschule. Die ehemalige Königin, die nun den unverfänglichen Titel «Herzogin von Saint-Leu» führte, fühlte sich aber in Konstanz unerwünscht, sodass sie sich für einen Wohnsitz in der Schweiz entschied. Sie kaufte das Schloss Arenenberg in Salenstein mit einer formidablen Aussicht auf See und Landschaft. In der Folge restaurierte sie das von aussen bescheiden wirkende Schloss in französischem Stil und liess es mit edlen Möbeln, exklusivem Wandschmuck, farbenfrohen Tapeten und dicken Teppichen prachtvoll ausstatten.
Hortense erinnerte ihren Sohn auch im Thurgau an seine napoleonischen Wurzeln und erzog ihn als potentiellen Thronfolger. Über dem Bett ihres Sohnes liess sie ein wandgrosses Bild von Napoleon Bonaparte aufhängen. Sogar der Kinderstuhl des kleinen Louis-Napoleons war mit einem gestickten Napoleon-Hut verziert.
Rudern, Rauchen und Reiten
Ein Privatlehrer unterrichtete Louis-Napoleon in Französisch, Latein und Arithmetik, während die Mutter ihm Zeichnen und Tanzen beibrachte. Doch allmählich begann der junge Mann seine ungestüme Seite auszuleben. Der Prinz vergnügte sich auf Jagden und Bällen, er ruderte mit dem Boot weit auf den See hinaus, besuchte das Theater, traf sich mit Freunden und ritt ziellos durch die Gegend. In Konstanz wurde er erwischt und bestraft, als er bei der hölzernen Rheinbrücke rauchte.
Louis-Napoleon erlebte seine turbulenten Jahre. Er war zwar nur gerade 1,60 Meter gross, dennoch war er sportlich und gut trainiert. Er zeigte Kunststücke beim Reiten, war ein geschickter Schlittschuhläufer, liebte Fechtkämpfe und Pistolenschiessen und durchschwamm schon mal den Bodensee bis zur Insel Reichenau – zu einer Zeit, als sonst kaum jemand schwimmen konnte. Auch galoppierte Louis-Napoleon auf seinem Araberhengst von Arenenberg nach Konstanz. Die rund zehn Kilometer legte er in einer Viertelstunde zurück, also in einem Tempo von 40 Kilometern pro Stunde! Bei der Zollstelle hielten ihn die Zöllner auf und verlangten einen Kreuzer. Der junge Mann griff in die Tasche und zahlte das Doppelte: «Das ist gleich für die Rückreise!»
Zwischen Schaffhausen und Konstanz kannte der Prinz alle zwielichtigen Lokale. Keinen Fasnachtsball und kein Sommerfest liess er aus. Sorgende Mütter versteckten damals ihre Töchter, sobald der Prinz in der Nähe auftauchte. Denn Louis-Napoleon war ein notorischer Schürzenjäger und Herzensbrecher.
1832 wollte die Gemeinde Salenstein ihrem royalen Bewohner das Ehrenbürgerrecht verleihen, aufgrund der «vielfach zuteil gewordenen Wohltaten». Doch dazu war das Bürgerrecht des Kantons Thurgau notwendig, welches Louis-Napoleon nur bekam, wenn er auf die französische Staatsbürgerschaft verzichtete. Das kam für den jungen Franzosen nicht infrage. Daraufhin zeigten sich die Thurgauer kreativ: Anstelle des örtlichen Ehrenbürgerrechts wichen die Thurgauer Behörden auf ein kantonales Ehrenbürgerrecht aus und liessen eine prächtige Urkunde ausstellen. Dies war das erste und einzige Ehrenbürgerrecht, das der Kanton Thurgau in seiner Geschichte je verliehen hat.
Mittlerweile in Thun zum Offizier ausgebildet, interessierte sich Louis-Napoleon für alles Militärische. Er konstruierte neuartige Kanonen und ballerte damit ohne Rücksicht über den Seerhein in Richtung Insel Reichenau. Bei seiner Hingabe für das Schiesswesen verwundert es nicht, dass Louis-Napoleon mit Gleichgesinnten 1835 den Thurgauer Schützenverein in Ermatingen gründete.
Trotz seines lokalen Wirkens behielt er die politische Lage in Frankreich im Auge. Nach einem misslungenen Putschversuch wies ihn Bürgerkönig Louis-Philippe nach Amerika aus. Dort blieb er nur gerade dreieinhalb Monate. Dann erreichte ihn die Meldung, dass seine Mutter Hortense sterbenskrank sei: Unverzüglich reiste er in die Schweiz zurück, und nach ihrem Tod wollte Louis-Napoleon nicht wieder in ein überseeisches Exil.
Daraufhin verlangte Frankreich die sofortige Ausweisung Louis-Napoleons, dieses staatsgefährdenden Putschisten. Die offizielle Schweiz wollte den Prinzen nicht ausweisen und berief sich dabei auf das thurgauische Ehrenbürgerrecht. Daraufhin bereitete Frankreich eine Invasion vor. Auf der anderen Seite mobilisierten der Aargau, Genf und die Waadt ihre Milizen. Zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft drohte ein Krieg – bis Louis-Napoleon die Schweiz verliess und damit die Kriegsgefahr entschärfte.
Böllerschüsse, Bögen und Beinbrüche
Doch zurück zur triumphalen Rückkehr als Kaiserbesuch im Jahre 1865: Böllerschüsse annoncieren damals den freudigen Besuch, der Salensteiner Männerchor bringt ein Ständchen dar, eilig errichtete Triumphbögen schmücken die Strassen, ein grosses Feuerwerk erhellt den Nachthimmel. Eine Spazierfahrt mit dem Dampfboot Arenenberg führt den hohen Gast nach Schaffhausen, wo er im «Kronenhof» absteigt und wo ihn ein Kadettenkorps empfängt. Später füllt er auf der Schlossterrasse die Kelche seiner Gäste eigenhändig mit Champagner. Volksnah schüttelt er die Hände des jubelnden Publikums, spricht mit den Gästen in bestem Thurgauer Dialekt und verteilt Auszeichnungen.
Freudentrunken geht die Reise weiter zum Kloster Einsiedeln, das ihm und seiner Mutter einst Zuflucht geboten hat. Der Kaiser beschenkt das Kloster mit einem vergoldeten Kronleuchter. Dessen Wert wird auf 40'000 Franken und sein Gewicht auf immense zweieinhalb Tonnen geschätzt. Via Luzern–Brünig gelangt Napoleon III. anschliessend nach Thun, wo er einst seine militärische Ausbildung genossen hat. Dort besichtigt er die neue Kaserne.
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Wenn er wieder komme, solle Freude walten, hatte der Kaiser zur Schweizer Reise gesagt. Doch die mit viel Freude erfüllte Reise endet tragisch: Als beim Bahnhof Neuenburg die Lokomotive pfeift, scheut ein Pferd des Kaisertrosses und brennt durch; drei Gesellschaftsdamen erleiden Bein- und Armbrüche.
Landesmuseum Zürich
Obwohl die Schweiz keine royale Tradition hat, faszinieren die Geschichten der Königshäuser auch hierzulande. Ob Kaiserin, Königin oder Prinzessin: Eines hatten die königlichen Besuche gemeinsam, egal ob sie aus politischen, wirtschaftlichen oder privaten Gründen erfolgten. Sie lösten – damals wie heute – eine immense Begeisterung und Faszination in der Schweizer Bevölkerung aus. Dies zeigt die Ausstellung anhand von zahlreichen Bildern und exklusiven Objekten der Blaublütigen.
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