Wir sitzen am Arsch der Welt. Wir, das sind meine zwei Cousins, meine Schwester und ich. Wir sind in der Schweiz geboren, reisen aber alle paar Jahre zusammen nach Serbien. Einfach, weil wir schon als Kinder jeden Sommer in den Kuhkäffern jenseits von Belgrad miteinander verbrachten. Und weil wir uns im Alltag nur wenig sehen. Der Stress, die Arbeit, die Verpflichtungen.
Das letzte Mal waren wir 2015 in der Heimat unserer Eltern. An einem Nachmittag, unser Mietauto hatte gerade eine Panne, strandeten wir auf einer Überlandstrasse, wo es nichts gab ausser einem Schnellimbiss. Wir bestellten Cevapcici, drei Bier und für mich ein Wasser. Der Betreiber versuchte den Pannendienst zu erreichen. Ohne Erfolg.
Wir nahmen es locker. In den Tiefen des Balkans läuft alles etwas langsamer, entspannter, stressfreier.
Wie wir so da sitzen, kommen zwei Männer rein. Sie tragen weisse Unterhemden und zerfetzte Schuhe. Sie bestellen Bier und Burger. Die Mittagssonne brennt, es ist drückend heiss.
Wir sprechen Deutsch. Die Männer wollen wissen, was wir Kurliges reden. Innert zwei Minuten mutieren wir von Fremden zu Familie. Die beiden wollen uns einen Drink ausgeben. Milan, der Jüngere, steht auf und holt drei Biere aus dem Kühlschrank.
Mein Saft fordert ihn heraus. «Saft? Der Alte weiss nicht einmal, wie Saft aussieht!», sagt der Ältere. Sowohl Milan als auch Zoran haben in den letzten 30 Jahren nichts Alkoholfreies getrunken. Ausser Kaffee. Meine Liebe für die beiden könnte grösser nicht sein.
Sie sind Müllmänner. Ihre Arbeitszeiten sind nirgends in Stein gemeisselt. Sie arbeiten, bis die Strassen sauber sind. Einigermassen zumindest. «Wir wollen ja in die EU, dafür muss der Müll weg», sagen Zoran und Milan und lachen dieses wohlwissende Lachen, dass das mit dem Beitritt zur EU höchstwahrscheinlich noch lange nichts wird.
Die Herren verhocken. Vier Stunden sitzen wir da, essen, trinken, lachen. Auf die Frage, warum sie mitten im Tag so lange pausieren können, antwortet Milan: «Wir können alles. Nicht so wie du gebildete Schweizerin mit Arbeitszeiten, die dich vielleicht reich, aber nicht frei machen.»
Ins gleiche Horn stösst der Mann meiner Cousine. Er ist ein Klischee-Jugo. Fettfalte im Nacken, Glatze, Goldzahn. Er arbeitet irgendwas mit Sicherheitsdienst.
Während wir zu zehnt in seinem verrauchten Wohnzimmer sitzen, kommt erneut das Thema EU auf. Goran, so der Name des Mannes meiner Cousine, ist gegen den Beitritt. «Führt Serbien EU-Arbeitszeit ein, die maximal 48 Stunden pro Woche beträgt, werden Familien auseinandergerissen.»
Goran holt aus. Wenn man so viel Zeit mit Arbeiten verbringt, würde die Qualitytime daheim sehr leiden. So dass es zum Bruch käme. Er würde nie mit uns Schweizern und unserem Arbeitspensum tauschen wollen. Wir lachen.
Später sitzen wir Schweizer in einer Kneipe und lassen Gorans Worte und die der Strassenarbeiter auf uns wirken. Wir fragen uns, ob wir die Idioten sind, die zu viel arbeiten und zu wenig leben. Eine finale Antwort haben wir nicht.
Einig sind wir uns darin, dass des Serben Arbeitsmoral gesünder für Geist und Seele ist. Und lustiger. Und dass all das am Ende vielleicht doch wichtiger ist als der Kontostand. Oder eine Mitgliedschaft in der EU.
Solange das Land in anderen, wichtigen Punkten Fortschritte macht, ist wohl alles bestens so, wie es ist. Und Fortschritte macht es. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass Ana Brnabic Regierungschefin wird. Obwohl sie lesbisch ist. Und Homosexualität ausserhalb von Belgrad leider immer noch gesellschaftlich nicht anerkannt ist.
Mit Brnabics Ernennung sind wir aber schon mal auf dem richtigen Weg. Ob dieser irgendwann doch noch in die EU führt oder, ganz nach dem Lieblingsmotto des Serben «fuck the boring system», in einer hippieähnlichen Revolution endet, wird sich zeigen. Ich persönlich fände zweiteres geiler. Hajde!