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Das Beste 2018

Das jüngste herztransplantierte Kind der Schweiz – eine Rekonstruktion

Noch weiss Sophia nicht, was sie in ihrer kurzen Zeit auf dieser Erde bereits alles erlebt hat.
Noch weiss Sophia nicht, was sie in ihrer kurzen Zeit auf dieser Erde bereits alles erlebt hat. bild: zvg

Das jüngste herztransplantierte Kind der Schweiz – eine Rekonstruktion

Umstritten, heikel, anspruchsvoll: Herztransplantationen gelten in der Chirurgie als die Königsdisziplin. Der vorliegende Fall schrieb Schweizer Medizingeschichte.
18.03.2018, 12:0826.10.2020, 12:45
Ralph Steiner
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Inhaltsverzeichnis

  • Teil 1: Einleitung, Rückblende
  • Teil 2: Interview mit Sophias Mutter zum Thema Herztransplantation
  • Teil 3: Interview mit dem behandelnden Arzt Michael Hübler zum Thema Organspende und dem umstrittenen Hirntod
  • Teil 4: Kleiner Dämpfer in der Entwicklung und Ausblick

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Eigentlich haben Anna* und Luis* überhaupt keinen Appetit, trotzdem gehen sie an diesem Samstag in der Nähe des Zürichsees essen. Es gilt die Zeit zu vertreiben, gleichzeitig geistern den Eltern tausende von Gedanken durch den Kopf. Ein paar Kilometer Luftlinie entfernt liegt ihre erst 24 Tage alte Tochter Sophia mit geöffnetem Brustkorb auf einem Operationstisch im Zürcher Kinderspital. Als die Mutter sich telefonisch nach dem Zustand ihrer Tochter erkundigt, teilt man ihr mit, dass die dreistündige Operation erfolgreich verlaufen sei und bestätigt: «Ja, das Herz ist transplantiert und schlägt.»

«Wir waren völlig baff.»

Der historische chirurgische Eingriff ist Tatsache. Sophia erhält am 22. Dezember 2015 als das jüngste Kind überhaupt in der Schweizer Medizingeschichte ein Herz transplantiert.

Video: watson/Ralph Steiner

«Da habe ich zu weinen begonnen» – Sophias Mutter zur Tatsache, dass ihre Tochter leben kann, weil ein anderes Kind gestorben ist.

Rückblende

Wir notieren den Samstag, 28. November 2015, 9:14 Uhr morgens in der Hirslanden Klinik in Aarau. Der erste Schnee ist gefallen, es herrscht winterliche Stimmung. Anna, 34-jährig, hat ihre soeben per Kaiserschnitt geborene Tochter auf der Brust, der Schnitt in ihrem narkotisierten Unterleib wird vom Gynäkologen zugenäht. Das Gefühl sagt Anna, dass irgendetwas mit Sophia nicht stimmt. Nach fünf Minuten geht es für die Neugeborene und den Vater in den oberen Stock, Sophia wird – wie nach einer Geburt üblich – gewaschen. Der Gynäkologe stellt jedoch fest, dass Sophias Herz nicht richtig schlägt, auch die Herztöne erscheinen ihm merkwürdig. Es vergehen zwanzig Minuten, vielleicht eine halbe Stunde, ehe sich die Haut des neugeborenen Mädchens grau-blau verfärbt und festgestellt wird, dass das Kind zu wenig Sauerstoff erhält. Ein herbeigerufener Kinderarzt stellt ein Problem mit dem Herzen fest, Sophia wird mit einem Krankenwagen ins Kantonsspital Aarau verlegt. Der Vater fährt mit dem Auto nach, die Mutter, von der Geburt geschwächt, bleibt völlig hilflos in der Hirslanden Klinik zurück.

Im Kantonsspital Aarau bestätigen die Ärzte die Vermutung, wonach mit Sophias winzigem Herzen etwas nicht in Ordnung sei. Das Kind wird intubiert (künstlich beatmet), jetzt muss es schnell gehen. Sofort wird Sophia mit dem Rega-Helikopter nach Zürich ins Kinderspital, kurz Kispi, geflogen. Annas Mann erscheint rasch bei ihr in der Aarauer Hirslanden Klinik und folgt dann Sophia mit dem Auto nach Zürich. Im Helikopter mitzufliegen ist aus Platzgründen nicht möglich. Als Anna beim Kinderspital telefonisch nachfragt, meint die Ärztin, dass sie jetzt keine Zeit habe, das Team sei mit einem Notfall beschäftigt.

Das Kinderspital Zuerich, aufgenommen am Montag, 2. Mai 2011, in Zuerich. (KEYSTONE/Steffen Schmidt)
Der Ort des Geschehens.Bild: KEYSTONE

Dieser Notfall ist wahrscheinlich Sophia. Etwas später erfährt Anna, dass sich ihre Tochter in einem kritischen Zustand befindet. Die Ärztin kann ihr nicht garantieren, dass das Mädchen noch lebt, wenn der Vater das Kinderspital in Zürich erreicht. Nur wenige Stunden sind seit der Geburt vergangen.

«Ich habe nur noch funktioniert»

Sophia wurde mit einem Tumor in der linken Herzhälfte geboren. Normalerweise haben Herzen von Neugeborenen die Grösse einer Baumnuss, Sophias Tumor war so gross wie ein Hühnerei. Dass ausgerechnet diese an sich schockierend grosse Schwellung dem Mädchen später das Leben retten sollte – die Natur hat es wohl so gewollt. Ebenso die Tatsache, dass Sophia überhaupt lebend geboren worden ist. Man entschied sich in der Hirslanden Klinik nur deshalb für einen Kaiserschnitt, weil sich das Mädchen im Bauch der Mutter nicht genügend gesenkt hat. Wäre Sophia normal zur Welt gekommen, hätte sie die Geburt wohl nicht überlebt, weil durch den riesigen Tumor ihr Bronchus abgedrückt worden und Sophia dabei erstickt wäre.

«Ich habe schon das Gefühl, dass die Natur etwas in diese Richtung gemacht hat» ist die Mutter überzeugt.

Organspende Transplantation Ralph
Der eindrückliche Grössenvergleich.grafik: watson/lea senn

Anna hatte bereits in den Wochen und Monaten vor der Geburt ein ungutes Gefühl, machte ihr Umfeld damit regelrecht wahnsinnig. Es war jedoch genau dieses Gefühl, das sie die Stunden nach der Geburt aushalten liess. Den möglichen Tod ihrer nur wenige Stunden alten Tochter in einem kalten Spitalzimmer, 50 Kilometer entfernt. «Als mir das Kinderspital Zürich mitteilte, dass Sophia jederzeit sterben könne, war das natürlich brutal. Ich war aber irgendwie vorbereitet, hatte auch nicht geweint, sondern nur noch funktioniert.»

Organspende Transplantation Ralph
Die Anzahl Transplantationen bei Kindern (Pankreas = Bauchspeicheldrüse).daten: swisstransplant, grafik: watson/lea senn
Organspende Transplantation Ralph
Die Anzahl Kinder, die auf ein Organ warten (Pankreas = Bauchspeicheldrüse).daten: swisstransplant, grafik: watson/lea senn

Üblicherweise bleiben Mütter nach einem Kaiserschnitt einige Tage im Spital, davon die ersten zwei mehr oder weniger ans Bett gefesselt. Anna, die in den ersten Stunden nach der Geburt ständig davon ausgehen musste, ihre Tochter, die sie in ihrem Leben erst fünf Minuten gesehen hatte, zu verlieren, ging bereits am ersten Abend eine Zigarette rauchen. Nach zwei Tagen entliess sie sich selbst aus der Hirslanden Klinik in Aarau, sie wollte nach Zürich ins Kinderspital zu ihrem Mädchen.

Bild Ralph Steiner - NIE verwenden.
Sophia, erstmals nach der Geburt in den Armen ihrer Mutter.bild: zvg

Der Anblick dort muss für eine Mutter schwierig zu begreifen sein. Sophia, erst 48 Stunden Teil dieser Welt, wurde künstlich beatmet und hatte rund 10 Schläuche im Körper, die ihr Hormone wie Adrenalin oder Noradrenalin zuführten. Alles Stoffe, die das noch immer vom hühnereigrossen Tumor behinderte Herz zum Schlagen anregten – alleine hätte dieses seine Funktion nicht aufrechterhalten können.

Video: watson/Ralph Steiner

«Es bricht einem das Herz» – Sophias Mutter über den Moment, indem sie ihr Kind, ausgenommen die wenigen Minuten nach der Geburt, zum ersten Mal gesehen hat.

Dass man nicht um eine Herztransplantation herumkommen würde, war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, die Eltern hatten dieser auch schon zugestimmt. Weil es in einem solchen Fall aber Monate dauern kann, bis ein geeignetes Spenderorgan zur Verfügung steht und Sophias Kreislauf durch den Tumor so instabil war, entschieden sich die Ärzte im Kispi, Sophia vorübergehend ein Kunstherz einzusetzen. Am 4. Dezember 2015, nur sechs Tage nach der Geburt des Mädchens, war es soweit. Professor Doktor Michael Hübler, Leiter der Herzchirurgie am Kinderspital Zürich, führte die Operation durch.

«Sophias Tumor wurde bei diesem Eingriff beinahe komplett entnommen, dabei sind aber auch Grossteile des Herzens entfernt worden. Damit haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, die Herz- und Kreislauffunktion ist über das Kunstherz stabilisiert worden und der Druck auf die Atemwege durch diesen steinharten Tumor konnte weggenommen werden. So konnte man sehen, ob sich die Atmung normalisiert.»
Prof. Dr. Michael Hübler

Vor der Implantierung des Kunstherzens, eines sogenannten Berlin Hearts, konnte Anna ihre Tochter zum ersten Mal seit der Geburt in den Arm nehmen – ihr Mann wollte dies so. Danach fühlte sich die Mutter egoistisch, weil man Sophia dafür zusätzlich sedieren musste, doch sie wurde vom anwesenden Fachpersonal beruhigt.

Statistiken zu Transplantationen in der Schweiz

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Statistiken zu Transplantationen in der Schweiz
In sämtliche Statistiken sind die Kinder eingerechnet.
quelle: swisstransplant / swisstransplant
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Der heikle Fall einer Organspende

Ich lernte Sophia per Zufall kennen, als ich für eine andere Reportage im Juni dieses Jahres eine Gruppentherapie für essgestörte Kleinkinder im Kispi besuchte. Auch Sophia gehörte zu den teilnehmenden Kindern, zu diesem Zeitpunkt nahm die Eineinhalbjährige pro Tag lediglich ein Stück Schokolade und drei Deziliter Wasser zu sich – sonstige Nahrung lehnte sie ab. Alle zusätzlichen essentiellen Nährstoffe erhielt das Mädchen durch eine spezielle Milch, die sie jeden Tag trinken musste. Sophia war essgestört, weil sie die ersten Monate ihres Lebens mit einer Magensonde ernährt wurde und so nie gelernt hat, Nahrung mit dem Mund aufzunehmen, zu kauen und herunterzuschlucken.

Zu dieser Essstörung gesellten sich gewisse soziale Schwierigkeiten. Sophia wird ihr ganzes Leben lang täglich Medikamente einnehmen müssen, die ihr Immunsystem einschränken, ansonsten besteht die Gefahr, dass der Körper das transplantierte Organ abstösst. Weil ihr Körper dadurch gleichzeitig zu wenig vor Viren und Bakterien geschützt ist, sind soziale Interaktionen, beispielsweise mit anderen Kindern, gut ein Jahr lang nur eingeschränkt möglich. Zudem kann Sophia nur rund 20 bis 30 Jahre mit ihrem neuen Herzen leben, danach ist eine weitere Transplantation nötig. Sollte ein weiteres Spenderherz nicht gefunden werden, kann es sein, dass die dann erwachsene Sophia sterben muss.

Bei meinem zweiten Treffen mit Sophias Mutter möchte ich von ihr wissen, inwiefern sie sich vor dem Entscheid, eine Transplantation zuzulassen, über die Zukunft ihrer Tochter Gedanken gemacht hat.

Sophia, etwas verträumt aber gesund und munter.
Sophia, etwas verträumt aber gesund und munter.bild: zvg

Haben Sie sich gefragt, ob Sie Ihrem Kind ein solches Leben zumuten möchten?
Zunächst einmal haben die Ärzte damals im Kispi jeden einzelnen Schritt mit uns besprochen. Man hat uns aufgezeigt, dass Sophia ohne das Kunstherz und eine weitere Operation (Anm. d. Red. die Herztransplantation) nicht überleben würde. Wir als Eltern hätten diese Eingriffe ablehnen und Sophia so sterben lassen können.

Wie konkret war damals die Kommunikation?
Die Ärzte im Kispi haben uns nicht direkt gefragt, ob wir unser Kind sterben lassen möchten, sie haben uns vielmehr die Möglichkeiten aufgezeigt. Sie waren immer sehr transparent, nahmen das Wort «sterben» schon in den Mund, aber immer auf eine gute Art.

«Wir wollen ihr, wenn sie etwas älter ist, auch beibringen, dass sie ihr Leben wertschätzt. Viel mehr wertschätzt als der Durchschnittsbürger.»
Sophias Mutter

Was hat Ihre Entscheidung für eine Transplantation beeinflusst?
Wir waren immer der Meinung, dass wir einer Transplantation zustimmen, solange die Chancen intakt sind, dass Sophia danach ein gutes Leben führen kann. Wäre der Fall eingetreten, dass Sophia geistig und körperlich so beeinträchtigt gewesen wäre, dass es zu einer lebenslangen Bettlägerigkeit geführt hätte, hätten wir uns wahrscheinlich anders entschieden. Obwohl sie dann ohnehin nicht transplantiert worden wäre. Wenn Sophia jetzt keine gute Sportlerin wird oder im Turnen nicht so stark ist, dann ist mir das egal. Hauptsache, sie kann mit anderen Kindern spielen und Freude empfinden.

Man könnte die ganze Sache aber auch negativ auslegen: Sophia muss ihr ganzes Leben lang jeden Tag Medikamente einnehmen, sie hat im Moment noch eine Essstörung, dadurch ist sie körperlich nicht so entwickelt wie andere gleichaltrige Kinder und ihr Spenderherz hält nur eine gewisse Zeit. Sind Sie dann immer noch der Meinung, dass Sophia ein vernünftiges Leben führt?
Es ist eine Gratwanderung zwischen dem Nutzen und was man dafür geben muss. Wir haben auch schon darüber diskutiert, dass sie in zwanzig bis dreissig Jahren vielleicht ein neues Herz braucht. Man weiss aber nicht, wie sich beispielsweise die Forschung entwickelt, was für neue Medikamente in Zukunft vorhanden sein werden. Es gibt jetzt schon herztransplantierte Menschen, die leben über dreissig Jahre.

Falls Sophia das Spenderherz, welches sie beispielweise in einem Alter von 27 Jahren dann benötigt, nicht erhält, dann ist ja der Schmerz für Sie als Familie viel grösser, wenn sie in diesem Alter stirbt, als nach der Geburt mit sechs Tagen, wo sie noch nicht so viel von dieser Welt mitbekommen hat?
Das mag sein. Da stelle ich mich dann aber zurück und sage: Sie hat schöne 27 Jahre gehabt, wo sie schön und fröhlich gelebt hat. Dann probiere ich dankbar zu sein für diese 27 Jahre. Wir wollen ihr, wenn sie etwas älter ist, auch beibringen, dass sie ihr Leben wertschätzt. Viel mehr wertschätzt als der Durchschnittsbürger. Ich finde auch gut, ist dieser Herzfehler gleich nach der Geburt aufgetreten, wo sie noch nichts davon mitbekommen hat. Für sie ist im Moment alles normal.

Sophia, mit Milchzähnen und höchst vergnügt.
Sophia, mit Milchzähnen und höchst vergnügt. bild: zvg

Ich bin überrascht, wie offen mir die Mutter Auskunft gibt, wie unbelastet sie mit mir über das Thema Tod diskutiert. Vielleicht prägt es eine Mutter, wenn das eigene Kind, kaum auf der Welt, tagelang um sein Leben kämpft. Vielleicht spielt in die ruhige Art der Mutter auch mit ein, dass sie früher selber einmal einige Semester Medizin studiert hat und somit viel genauer als ein Laie versteht, was ihre Tochter durchmachen musste. Der Plan war ursprünglich, das Studium nach der Geburt fortzusetzen. Weil Sophias Weg sich von anderen Neugeborenen aber deutlich unterscheidet, gab Anna die Ausbildung für ihre Tochter auf.

Michael Hübler – er führte bei Sophia die Herztransplantation durch – hat sein Medizinstudium abgeschlossen. Er studierte an der Universität Essen und arbeitete danach über 20 Jahre als Facharzt, Herzchirurg und zuletzt als stellvertretender Klinikdirektor am Deutschen Herzzentrum Berlin. 2012 folgte er dem Ruf aus Zürich und wurde am Kinderspital zum Chefarzt der Kinderherzchirurgie ernannt. Zudem erhielt er auf demselben Gebiet eine Professur. Hübler, heute Mitte fünfzig, hat in seiner beruflichen Laufbahn Tausende von Herzoperationen durchgeführt. Er gehört gemäss dem «Tages-Anzeiger» zu den «zehn, vielleicht fünfzehn Ärzten in Europa, die sich unter anderem auf Präzisionseingriffe an den winzigen Herzen von Neugeborenen spezialisiert haben».

ZUR MELDUNG, DASS AM KINDERSPITAL ZUERICH ESTMAL IN DER SCHWEIZ EINEM NEUGEBOREBEN ERGOLGREICH EIN HERZ TRANSPLANTIERT WURDE, STELLEN WIR IHNEN AM DIENSTAG, 2. FEBRUAR 2016, FOLGENDES ARCHIVBILD ZUR V ...
Michael Hübler in einem Operationssaal des Kinderspitals.Bild: KEYSTONE

Wenn Geduld gefragt ist

Es dürfte Sophias Eltern wie eine Ewigkeit vorgekommen sein, doch Anna und Luis mussten nur rund drei Wochen auf den rettenden Anruf warten. Swisstransplant, die Schweizerische Nationale Stiftung für Organspende und Transplantation, informierte, dass im Raum Europa ein mögliches Spenderherz zur Verfügung stehe. Das verstorbene Kind war aber acht Monate alt, was den Eingriff für Michael Hübler nicht einfacher machte. Weil Sophias Tumor jedoch ungefähr die Grösse eines Hühnereis aufwies, war genügend Platz da, das Herz des rund elf Kilogramm schweren Spenders (Sophia wog zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als drei Kilo) zu implantieren.

«Ich habe schon sehr viel Erfahrung gehabt mit Transplantationen auch in diesem kleineren Gewichtsbereich. Doppelte Gewichtsdifferenz ist in der Regel kein Problem, was dann darüber hinausgeht, hat eine gewisse Schwierigkeit, aber das liess sich bei Sophia sehr gut auffangen. Es ist aber schon mit einer gewissen Anspannung verbunden, ein solch grösseres Spenderorgan zu akzeptieren, weil man es nicht selbst anschauen kann. Es geht ein anderes Team ins Spital des Spenders. Wir mussten Sophia im Kispi auf die anstehende Transplantation vorbereiten.»
Prof. Dr. Michael Hübler

Dass es im Zürcher Kinderspital überhaupt zu einer Operation an einem solch jungen Kind kommen konnte, dafür hat sich Michael Hübler vehement eingesetzt. «Gott sei Dank hatten wir schon im Jahr vor der Geburt Sophias unsere Richtlinien zur Herztransplantation bei Kleinkindern verändert.» Vor Hüblers Stellenantritt im Jahr 2012 war die Altersgrenze für Herztransplantationen artifiziell auf ein Jahr festgesetzt, für den Herzchirurgen gibt es aber keinen medizinischen Grund, dies so zu praktizieren. «Weltweit finden Transplantationen auch im Neugeborenenalter statt und wir haben dann sukzessive unser Grenzalter herabgesetzt.»

Die Box mit dem Spenderherz wird im Operationssaal des Kinderspitals Zuerich aus der Kuehtruhe genommen, aufgenommen am Dezember 2011 in Zuerich. Es ist in der Schweiz die zweite Herztransplantation a ...
In einer solchen Box wurde auch Sophias Herz nach Zürich transportiert. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 2011.Bild: KEYSTONE

Ich möchte auch von Prof. Dr. Hübler wissen, inwiefern Eltern über gesundheitliche Komplikationen, die nach einer Herztransplantation auftreten können, informiert werden. An einem sonnigen Donnerstag im September 2017 empfängt mich der Herzchirurg in seinem Büro im Kinderspital.

Herr Hübler, bei Sophia ist es ja so, dass sie, wie bei Transplantationen üblich, täglich Medikamente nehmen muss. Sie konnte aufgrund der Infektionsgefahr lange Zeit nicht hinaus. Ab welchem Zeitpunkt unterrichtet man die Eltern über diese Dinge?
Dies wird schon bei der Einwilligung zur Transplantation abgeklärt. Wir versuchen immer zu vermitteln, dass eine Herztransplantation kein Persilschein ist, dass hinterher nicht alles ohne jegliche Probleme funktioniert. Die Akzeptanz des Organs wird erzwungen durch Medikamente, die in der Regel lebenslang eingenommen werden müssen und das hat seine Nebenwirkungen. Trotz der Unterdrückung der Immunreaktion finden langsame Veränderungen an dem Spenderorgan statt, die eben auch eine Begrenzung der Lebensdauer des Organs zur Folge haben. Selbst in der intensivsten, weltweiten Forschung der Herztransplantation sieht man, dass eben immer eine gewissen Sterblichkeit nach Transplantationen vorhanden ist. Die hört nicht auf.

«Die Problematik, die in den letzten Jahren aufgetreten ist, ist, dass Positionen auf der Warteliste manipuliert worden sind indem man die Patienten unter Umständen kränker gemacht hat, damit sie in eine höhere Dringlichkeitsstufe gebracht wurden.»
Prof. Dr. Michael Hübler

Die Eltern bestätigen vor einer Transplantation mit ihrer Unterschrift ihre Kenntnis über das Risiko, dass ihr Kind sterben könnte. Gibt man da einen Prozentwert an?
Jeder Patient ist ja individuell, aber es gibt von der internationalen Gesellschaft für Herz- und Lungentransplantation weltweite Statistiken, die jeder auch nachschlagen kann und da sieht man diese operativen Risiken. Dann gibt es natürlich auch individuelle und institutionelle Erfahrungen, die möglicherweise besser oder schlechter sind, aber da werden so viele Daten gesammelt in diesen internationalen Statistiken, dass man die Eltern schon mit guten Zahlen auf die Risiken vorbereiten kann.

Gab es da auch schon Eltern, die sagten: «Das machen wir nicht»?
Es gibt Eltern, die aus verschiedenen Gründen eine Transplantation ablehnen. Es gibt auch zum Teil Kinder, bei welchen wir sagen, dass das Risiko für das ganze Vorgehen unzumutbar ist und wir dann eine Transplantation auch nicht als Therapieoption anbieten.

Das ist ein fixer Entscheid, den Sie fällen? Da können die Eltern nichts machen?
Wenn die Transplantation keine Aussicht auf Erfolg hat, dann teilen wir den Eltern mit, dass wir die Transplantation nicht durchführen. Dann haben sie die Option, woanders hinzugehen. Diese Entscheidung wird interdisziplinär gefällt, quasi ausschliesslich interdisziplinär. Unter Umständen auch mit Ethikkommissionen.

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Sophia in Winterlaune.bild: zvg

Was machen Sie denn in einer Situation, in welcher Eltern eine Transplantation ablehnen, die Sie für sinnvoll erachten? Lässt man den Patienten dann sterben?
Das ist ein sehr heikles Thema. Man versucht natürlich immer, einen Konsens herzustellen. Ein Eingriff in die Autonomie der Eltern findet eigentlich nur statt, wenn eine grosse Diskrepanz zwischen dem erwarteten Erfolg steht. Wenn es eigentlich ein leicht zu behandelnder Herzfehler ist, die Eltern eine Transplantation aber ablehnen. Dann kommt ein anderes Verfahren zur Anwendung. Wir führen dann mehrere Gespräche mit allen beteiligten Disziplinen. Da sind dann auch die Kardiologen, da sind die Intensivmediziner, die das Gesamtbild beurteilen. Es sind Psychologen, die mit in diese Gespräche eingreifen und man versucht dann tatsächlich, die Position der Eltern zu verstehen und dann halt eben auch zu akzeptieren, wenn kein Konsens zu finden ist.

Ursprünglich war die Altersgrenze am Kinderspital für Transplantationen ja auf ein Jahr festgesetzt. Was waren da die Beweggründe? Wer bestimmt das?
Ein Aspekt sind Kommissionen in interdisziplinären Gesprächen, ein anderer Aspekt mag sein, dass die Hirntod-Diagnostik bei sehr kleinen Kindern sehr schwierig ist. Einer der Aspekte des Hirntodes ist ja der Nachweis einer fehlenden Durchblutung des Gehirns. Der Hirntod entsteht zum Teil dadurch, dass ein Hirnödem besteht, das Hirngewebe dehnt sich aus, kann dies aber in der Schädelkalotte nicht unbegrenzt tun. So steigt der Druck im Gehirn sehr stark an und unterdrückt dann die Durchblutung. Der Blutdruck reicht nicht mehr aus, um den Druck im Schädel zu überwinden.

Dann kann man zeigen, dass die Hirngefässe keine Durchblutung mehr haben, was ein absolut sicheres Kriterium für den Hirntod ist. Bei Kindern sind die Schädelknochen so weich, dass sie auseinanderweichen und man dieses Phänomen nicht in der Form nachweisen kann. Die Hirntoddiagnostik, die Reflexe, sind bei Kleinkindern, bei Neugeborenen anders als bei Erwachsenen. Es besteht da im ersten Lebensjahr eine gewisse Unsicherheit, da ging man dann davon aus, dass man keine sichere Hirntoddiagnostik bei diesen Kindern machen kann. Diese Diagnostik hat sich jetzt verbessert, es gibt ein genaues Prozedere, wie bei solchen Spendern vorzugehen ist.

«Ich muss sagen, es wäre schwer für mich gewesen, eine solche Entscheidung der Eltern zu akzeptieren. Ich hätte sie aber akzeptieren müssen.»
Prof. Dr. Michael Hübler

Trotzdem ist die Definition des Hirntodes umstritten, es war schon von Missbrauch zu hören.
Die Hirntodkriterien hier sind so genau definiert, dass ich eigentlich keine Sorgen habe, dass da ein Missbrauch entstehen könnte. Die Problematik, die in den letzten Jahren aufgetreten ist, ist, dass Positionen auf der Warteliste manipuliert worden sind indem man die Patienten unter Umständen kränker gemacht hat, damit sie in eine höhere Dringlichkeitsstufe gebracht wurden. Da gab es gewisse Fälle in Deutschland, nicht nur bei der Herztransplantation, auch bei anderen Organen. Wobei man den Ärzten nicht immer ein böse Absicht unterstellen kann, man kann dies genauso gut als besondere Fürsorge für einen speziellen Patienten werten.

Können Sie grundsätzlich Menschen verstehen, die Transplantationen ablehnen?
Ich kann Menschen verstehen, die Organtransplantation ablehnen. Aber meiner Ansicht nach, liegt dies nicht an der Definition des Hirntodes. Wenn jemand selbst kein Organ nehmen möchte, wenn er sich aus moralischen, ethischen oder religiösen Gründen oder andere Überlegungen gegen eine Transplantation entscheidet, dann ist das eben eine individuelle Entscheidung.

Das jetzt aber an der Hirntoddiagnostik und -Sicherheit festzumachen – aus über 20 Jahren Erfahrung in der Transplantationsmedizin kann ich sagen, dass ich nie den Eindruck hatte, eine Hirntoddiagnostik sei positiv gefällt worden und habe das Sterben eines Patienten beschleunigt. Der Prozess der Organtransplantation ist für Kliniken so aufwändig, dass das möglicherweise auch einer der Ursachen ist, warum es so wenig Spenderorgane gibt. Ein spezielles Team muss in das Krankenhaus fahren, es müssen die sicherlich nicht leichten Gespräche mit den Angehörigen durchgeführt werden, das nimmt sehr viel Zeit und Ressourcen im Spenderkrankenhaus in Anspruch. Ich habe nicht erlebt, dass man einfach leichtfertig mit einer Transplantation beginnt.

Diplomarbeit Ralph Steiner - nicht nehmen!
Sophia, von Geschenken überhäuft.bild: zvg

Hätten Sie im Fall von Sophia, in welchem eine Transplantation aus Ihrer Sicht ja sehr grosse Erfolge hätte bringen können, nicht die Welt nicht mehr verstanden, wenn die Eltern diese abgelehnt hätten?
Es war natürlich schon ein extremer Fall mit dem Kunstherz, dieser Druck auf die Lungengefässe, die die Transplantation gefährlicher gemacht haben. Trotzdem, ich muss sagen, es wäre schwer für mich gewesen, eine solche Entscheidung der Eltern zu akzeptieren. Ich hätte sie aber akzeptieren müssen.

Hätten Sie in diesem Moment auch nochmals versucht, einen Konsens zu finden?
Wir sitzen dann immer mit den Eltern zusammen an einen Tisch und versuchen, die Fakten auf den Tisch zu legen, auch Verständnis für die anderen Meinungen zu entwickeln. Das ist ein Prozess, der ablaufen muss. Man merkt dann auch, dass es kulturelle Unterschiede gibt.

Ein Dämpfer

Es geht mit Sophia stetig aufwärts. Als ich die Familie an einem schwülen Donnerstag im August zum ersten Mal besuche, spielt das Mädchen vergnügt im Garten, lacht, tollt herum, geniesst die Sonne. Je weiter Sophias zweites Lebensjahr fortschreitet, desto mehr isst sie, ein wichtiger Schritt in der persönlichen Entwicklung. Doch dann – wie aus dem Nichts – ein Rückschlag.

«Ich bin auch heute noch am verarbeiten, was damals war. Das dauert, auch weil man immer wieder im Spital ist und erinnert wird.»
Sophias Mutter

Anfang November 2017 steckt sich Sophia mit einer Angina an, es folgen eineinhalb Wochen Fieber. Wo das Mädchen den Infekt aufgelesen hat, weiss die Familie nicht. Vorbereitet war sie jedoch, wie die Mutter bestätigt: «Man ist immer in einer solchen Alarmhaltung. Ich hatte lange Angst vor dem ersten Infekt, weil ich nicht wusste, wie Sophia reagieren würde. Wenn wir beispielsweise am einkaufen sind und jemand hustet, nehme ich automatisch Abstand.»

Zusätzlich zur Angina erleidet Sophia eine Magen-Darm-Grippe, die sie stark mitnimmt. Sie erbricht viel, ist dehydriert, völlig schlapp und bewegt sich irgendwann fast gar nicht mehr. Bei der Familie schrillen die Alarmglocken, man fährt ins Spital. Dort wird gleich das Herz untersucht, doch es ist alles in Ordnung. Die
Ärzte pflegen das Mädchen gesund, nach einer Woche darf es wieder nach Hause – so weit so gut. Nur fällt Sophia nach diesem Zwischenfall punkto essen wieder etwas ins alte Fahrwasser zurück, sie verweigert sich gewisser Nahrung, möchte nicht mehr so viel zu sich nehmen, wie auch schon.

Video: watson/Ralph Steiner

«Sie hat ein glückliches und gutes Leben» – Sophias Mutter über den aktuellen Zustand ihrer Tochter.

Trotz dieses Rückschlags ist die Familie freier, was die Lebensplanung anbelangt. Anders als im ersten Lebensjahr – da waren Nachmittage auf dem Spielplatz grundsätzlich nicht möglich – hat Sophia nun Kontakt zu anderen Kindern. Im vergangenen November wurde sie zweijährig, nebst dem normalen feiert die Familie jeweils auch den «Herzligeburtstag», den Tag, an welchem Sophia ihr Spenderherz erhalten hat. Gemeinsam gedenkt man dann des verstorbenen Spenderkindes.

Mutter Anna wird zwar regelmässig von der Transplantation eingeholt, wie sie im Gespräch erzählt: «Ich bin auch heute noch am verarbeiten, was damals war. Das dauert, auch weil man immer wieder im Spital ist und erinnert wird.» Doch sie glaubt fest daran, dass die Geschichte so lange als möglich andauern mag.

Die Geschichte des jüngsten Kindes in der Schweiz, dem je ein Herz transplantiert worden ist.

*Namen der Redaktion bekannt.

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