Herr Kohler, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie in den Bergen unterwegs sind und ein Helikoptergeräusch hören?
Ernst Kohler: Auch wenn ich nach über 35 Jahren in der Helikopterfliegerei nicht mehr jedem Helikopter nachschaue, habe ich beim Anblick eines Rega-Helikopters immer noch das beruhigende Gefühl, dass einem Menschen in Not geholfen wird.
Sie sind selber Bergführer. Erlebten Sie schon Situationen, in denen Sie ernsthaft daran dachten, den Rega-Alarm auszulösen?
Ich hatte bis jetzt das Glück, dass ich meine Bergtouren und meine sonstigen Freizeitaktivitäten ohne grössere Zwischenfälle erleben durfte. Dafür bin ich sehr dankbar, weil es nicht selbstverständlich ist. Ich würde aber bei einem medizinischen Problem oder bei Schwierigkeiten in den Bergen nicht zögern, die Rega um Hilfe zu rufen. Als ehemaliger Bergführer bin ich mir dessen bewusst, dass viele Unfälle durch eine rechtzeitige Alarmierung verhindert werden könnten.
Stimmt der Eindruck, dass die Rega heute im Zweifelsfall früher gerufen wird als zu Zeiten, da das Auftauchen eines Rettungshelikopters noch ein Ereignis war?
Nein, dieser Eindruck stimmt nicht. Sanitätsnotrufzentralen, Polizei, Pistenrettungsdienste und Spitäler wissen sehr genau, wann ein Rettungshelikopter sinnvoll ist. Und auch Privatpersonen sind sehr zurückhaltend und verantwortungsvoll, wenn es darum geht, die Rega zu alarmieren – oft sogar zu zurückhaltend. Unsere Einsatzzahlen zeigen, dass die Zunahme der Einsätze der Rega-Helikopter etwa proportional zum Bevölkerungswachstum ist. Die Luftrettung, wie sie heute in der Schweiz erfolgt, ist angemessen, professionell und kostengünstig – die Rettungshelikopter der Rega erfüllen ihre Aufgabe dort, wo es notwendig, sinnvoll und effizient ist.
Die Rega ist nicht nur daran, die Mittelland-Helikopterflotte zu ersetzen, sondern hat im April auch den ersten von drei neuen Ambulanzjets in Betrieb genommen. Wie sieht die erste Bilanz aus?
Sehr positiv. Die Optimierungen, die wir am neuen Rega-Jet zugunsten unserer Patienten und Crews umgesetzt haben, bewährten sich bereits auf über 60 Einsätzen. Wir freuen uns sehr, dass wir diesen Monat den zweiten Challenger 650 in Empfang nehmen können.
130 Millionen Franken hat die Rega in die neuen Jets investiert. Hand aufs Herz: Führen bessere Jets auch zu mehr Einsätzen?
Es ist nicht das Ziel der Rega, möglichst viele Patienten zu fliegen. Wir fliegen dann, wenn es uns braucht. Daran ändern auch die neuen Ambulanzjets nichts. Wir haben die alte Ambulanzjetflotte, die übrigens 16 Jahre lang im Einsatz stand, erneuert, um die Einsatztätigkeit der Rega aufrechterhalten zu können. Schliesslich verhält es sich mit Luftfahrzeugen wie mit Autos: Je älter sie werden und je häufiger man sie braucht, desto aufwendiger und teurer ist ihre Instandhaltung.
Die Zahl der Repatriierungen nimmt aber zu: Allein 2017 wurden rund 900 Patienten in die Schweiz geflogen. Was zeigt das an?
Die leichte Zunahme der Repatriierungen führen wir vor allem auf die vermehrte Reisetätigkeit der Schweizer Bevölkerung zurück. Wenn man es etwas salopp formuliert, kann man sagen, dass die Rega-Jets dort im Einsatz stehen, wo Herr und Frau Schweizer entweder Ferien machen oder geschäftlich unterwegs sind.
Erstaunlich ist, dass zunehmend auch Menschen aus dem nahen europäischen Ausland repatriiert werden müssen. Die medizinische Grundversorgung scheint vor allem ausserhalb der Zentren zu leiden.
Ob es sich dabei wirklich um einen Trend handelt, kann ich nicht sagen. Sicher ist aber, dass wir in der Schweiz eine hervorragende medizinische Grundversorgung haben. Und das übrigens nicht nur am Boden, sondern auch aus der Luft. Ein kleines Beispiel: Am Tag ist die Abdeckung mit Rettungshelikoptern in der Schweiz doppelt so hoch wie in Deutschland. Und in der Nacht erhöht sich das Verhältnis gar auf den Faktor 10. Diesen hervorragenden Strukturen müssen wir unbedingt Sorge tragen. So, dass auch künftige Generationen davon profitieren können.
Die Luftrettung ist offensichtlich im Trend. Es gibt in der Schweiz insbesondere mit der im Aargau beheimateten Alpine Air Ambulance Konkurrenz. Belebt sie das Geschäft – oder ist sie für die Rega vorab ein Ärgernis?
Ich sage zu diesem Thema nur so viel: Die Schweiz verfügt über eine hervorragend aufgestellte Luftrettung. Unsere Meinung in dieser Frage ist seit Jahren unverändert: Der Aufbau von Parallelstrukturen im Bereich der Blaulichtorganisationen ist nicht zielführend.
Und dann gibt es noch den Spezialfall Wallis, wo Air-Glaciers und Air Zermatt im Einsatz den Luftraum beherrschen.
Sowohl mit der Air Zermatt als auch mit der Air-Glaciers pflegen wir eine gute und bewährte operative Zusammenarbeit. Auch wenn die Rega im Wallis keine Einsatzbasis betreibt und die Luftrettung aus historisch gewachsenen Gründen anders organisiert ist als im Rest der Schweiz, sind auch die Rega-Helikopter immer wieder im Wallis anzutreffen. Dann nämlich, wenn uns die Sanitätsnotrufzentrale 144 Wallis für medizinische Intensivtransporte oder zur Unterstützung der eigenen Luftrettungsmittel bei Grossereignissen aufbietet. So weit weg ist die Rega also auch im Wallis nicht.
Sagen Sie uns: Wohin geht die aviatisch-medizinische Entwicklung? Wo liegt die Pièce de résistance in der Luftrettung?
Seit Jahren beschäftigt uns die Frage, wie wir das Wetter als limitierenden Faktor weitgehend ausschalten können. Wir sind dezidiert der Meinung, es dürfe nicht sein, dass ein Neugeborenes zum Beispiel aus dem Engadin oder dem Kanton Tessin nicht in die dringend benötigte Spezialklinik geflogen werden kann, nur weil die Sicht zu schlecht ist.
Noch kann das aber vorkommen.
Wir haben in den letzten Jahren viel in unsere Vision einer wetterunabhängigen Luftrettung investiert und konnten in verschiedenen Bereichen bereits grosse Erfolge verbuchen. So können wir beispielsweise seit Ende des vergangenen Jahres wichtige Instrumentenflugrouten und Spitalanflüge fast rund um die Uhr nutzen und etwa 300 Menschen im Jahr retten, denen wir früher nicht hätten helfen können. Das ändert aber nichts daran, dass wir bei weitem noch nicht am Ende unserer Arbeit stehen.
Wo sehen Sie für die Rega die grossen Herausforderungen in den nächsten zehn Jahren?
Als oberstes Ziel müssen wir die Unabhängigkeit, die Selbstständigkeit und die langfristige Finanzierung der Rega weiterhin sicherstellen. Nur so werden auch die nächsten Generationen von der medizinischen Hilfe der Rega profitieren können – nicht nur in den Agglomerationen im Mittelland, sondern eben auch in den ländlichen Regionen. Ich werde deshalb nicht müde, zu betonen, dass die Rega keine Selbstverständlichkeit ist. Wir erhalten keine Subventionen vom Staat, und es gibt die Rega nur, weil Gönnerinnen und Gönner mit ihrem solidarischen Beitrag die Rega Jahr für Jahr unterstützen.
Die Rega ist eines der wenigen nicht staatlichen nationalen Aushängeschilder – ähnlich wie der Circus Knie. Gefällt Ihnen der Vergleich?
Ich komme mir in der Tat ab und zu vor wie ein Dompteur oder ein Zirkusdirektor (lacht). Nein, im Ernst, ich glaube, der Vergleich ist nicht so falsch. Die Rega ist eine der beliebtesten Marken der Schweiz. Gross und Klein kennt die Rega-Helikopter, und über 3.4 Millionen Menschen unterstützen uns jährlich als Gönner. Das ist sehr schön, freut uns und motiviert die Rega-Mitarbeitenden und mich persönlich in unserer täglichen Arbeit. Apropos Circus Knie: Ich war jüngst mit meiner Familie an der Vorstellung in Luzern – ein fantastisches Programm.
In diesem Jahr wird die Rega aller Voraussicht nach die Gönnerzahl von 3.5 Millionen knacken. Die Rega könnte gesundheitspolitisch also eine Macht im Land sein – initiativ- und referendumsfähig wäre sie jedenfalls. Will sie nicht oder kann sie nicht?
Sie setzen uns hohe Ziele (lacht). Eine unserer Stärken ist die Fokussierung auf unsere Aufgabe, Menschen in Not medizinische Hilfe aus der Luft zu bringen, und die Luftrettung ist in der Schweiz laufend weiter zu verbessern. Für diese Ziele setzen wir uns konsequent ein. Ich glaube aber nicht, dass die Rega sich darüber hinaus in gesundheitspolitische Belange einmischen sollte. Wir wollen unsere eigene Arbeit gut machen, uns für die Bereiche, in denen wir gut und kompetent sind, einsetzen – alles andere wäre meiner Auffassung nach unprofessionell. Das Sprichwort «Schuster, bleib bei deinem Leisten!» trifft es ganz gut.
Trotzdem: Was tut Ihrer Meinung nach am meisten not im Gesundheitswesen?
Lassen Sie es mich so sagen: Ich habe das Privileg, mich einzig mit der Schweizer Luftrettung und deren Schnittstellen zu den anderen Bereichen des Gesundheitswesens befassen zu dürfen. In der Luftrettung, an der Schnittstelle zwischen Aviatik und Medizin, stellt die zunehmende Regulierungsdichte wahrscheinlich die grösste Herausforderung an uns.
Und was ist Ihr Rezept gegen das von Ihnen geortete Malaise?
Leider habe ich kein Heilmittel gegen die Flut von Regelungen, die ja nicht nur das Gesundheitswesen beschäftigt. Bei der Rega versuchen wir, trotz Hürden unsere Aufgabe nicht aus den Augen zu verlieren. Schliesslich stellen wir den Patienten in den Mittelpunkt unseres Handelns und nicht den Stapel Papier, der sich bei der Arbeit so nebenbei anhäuft.
Sie sind seit zwölf Jahren CEO der Rega. Es scheint, dass das Luftrettungsvirus nicht mehr loswird, wer es einmal eingefangen hat.
Das kann man durchaus so sagen. Als junger Bergretter, der oft selber unter dem Helikopter hängend zum Patienten geflogen wurde, hätte ich aber nicht zu träumen gewagt, diese Rega einmal als CEO zu führen. Kurz gesagt: Ja, meine Faszination für die Aviatik und die Medizin ist auch nach 35 Jahren ungebrochen hoch.
Sie spüren demnach keine Ermüdungserscheinungen?
Nein, überhaupt nicht. Es macht mir nach wie vor grosse Freude, zusammen mit meiner Geschäftsleitung und den rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Luftrettung in der Schweiz weiterzuentwickeln und dafür zu sorgen, dass unseren Patienten schnell und professionell geholfen werden kann.
Wovon träumen Sie noch? Wie hoch hinaus wollen Sie noch?
Träume im Sinn von Vorhaben, die ich gerne in Angriff nehmen möchte, habe ich keine. Wenn ich etwas machen will – eine schöne Bergtour oder gemütliche Stunden mit meiner Familie verbringen –, so versuche ich das innert nützlicher Frist umzusetzen und nicht auf die lange Bank zu schieben. So gesehen bin ich also wunschlos glücklich. (aargauerzeitung.ch)