Ein Schweizer Grenzwächter muss sich ab dem heutigen Mittwoch vor dem Militärgericht 4 in Bern für die erlittene Totgeburt einer syrischen Flüchtlingsfrau verantworten. Er soll der Schwangeren die nötige medizinische Hilfe verweigert haben.
Die Frau, die die Totgeburt bei einer Rückführung durch die Schweiz nach Italien erlitt, sagte vor Gericht als Zeugin aus, die Grenzwächter in Brig hätten nur in den Raum geschaut, in dem sie untergebracht war, aber nichts unternommen.
Es habe sehr deutliche Zeichen geben, dass es seiner Frau nicht gut gehe, sagte am Mittwoch der Ehemann der Syrerin vor dem Militärgericht. Die hochschwangere Frau hatte im Sommer 2014 bei einer Rückschaffung durch die Schweiz ihr Kind verloren.
Er sei kein Gynäkologe, aber er habe gesehen, dass seine Frau geblutet und starke Schmerzen gehabt habe, sagte der Mann als Zeuge vor dem Militärgericht. Seine Frau sei vor Schmerz fast ohnmächtig geworden und habe sich gewunden.
Er habe die Schweizer Grenzwächter, die die Flüchtlingsgruppe begleiteten, am Bahnhof Brig bestimmt drei-, viermal auf Englisch auf die gesundheitlichen Probleme seiner Frau aufmerksam gemacht.
Der Angeschuldigte war verantwortlich für eine Gruppe von Grenzwächtern, die eine Flüchtlingsgruppe durch die Schweiz nach Italien zurückbringen sollte.
Die schwangere Frau war zusammen mit Angehörigen und weiteren Flüchtlingen Anfang Juli 2014 im Zug von Mailand nach Paris unterwegs. Die Gruppe wurde aufgegriffen. Schweizer Grenzwächter sollten sie danach von Vallorbe VD über Brig VS nach Domodossola (I) zurückschaffen.
Zunächst wurden die Flüchtlinge per Bus von Vallorbe nach Brig gefahren, wo sie kurz vor 14.30 Uhr ankamen. Von dort hätte es im Zug weiter gehen sollen nach Domodossola. Weil das Passagieraufkommen wegen der beginnenden Ferien gross war, entschied der verantwortliche Grenzwächter, dass die Gruppe erst kurz vor 17 Uhr im Zug nach Italien weiterreisen sollte.
Die Flüchtlinge wurden vorübergehend in den Kontrollräumen des Grenzwachtpostens Brig untergebracht. Kurz nach ihrer Ankunft in Brig setzten bei der Frau Schmerzen und Blutungen ein, die sie als Geburtswehen beschrieb. Der Ehemann benachrichtigte umgehend die Grenzwächter und forderte diese mehrmals und eindringlich auf, sofort medizinische Hilfe anzufordern.
Laut Anklageschrift gab der Grenzwächter dem Ehemann zu verstehen, er werde keine Hilfe anfordern, um die planmässige Weiterfahrt der Gruppe nach Domodossola nicht zu gefährden.
Die Anklage wirft dem Grenzwächter vor, dieser habe den Tod des Ungeborenen bewusst in Kauf genommen, denn der Fall würde nach Ankunft in Domodossola ja Sache der italienischen Behörden sein, wie es in der Anklageschrift heisst. Der Mann habe aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit darauf vertraut, es werde der Familie auf der Reise nach Domodossola schon nichts passieren.
In Domodossola brach die Syrerin zusammen. Die italienischen Grenzwächter liessen sofort medizinische Hilfe kommen. Im örtlichen Spital konnten die Ärzte allerdings nur noch den Tod des ungeborenen Kindes feststellen. Der Fall sorgte international für Entsetzen.
Der Prozess in Bern dauert voraussichtlich bis am Freitag. Der Anklage sind drei verschiedene Varianten zugrunde gelegt. Diese hängen unter anderem davon ab, wann im strafrechtlichen Sinn das Leben eines ungeborenen Kindes beginnt und wann dessen Tod eingetreten ist. Im schwersten Fall lautet die Anklage auf vorsätzliche Tötung. Für den Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung. (sda)