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ADHS-Betroffene erzählt: «Im Vergleich mit anderen fühlte ich mich blöd»

Eine betroffene erzählt von ihrer Schulzeit mit nicht diagnostiziertem ADHS. (Symbolbild)
Eine betroffene erzählt von ihrer Schulzeit mit nicht diagnostiziertem ADHS. (Symbolbild)Bild: KEYSTONE/PETER SCHNEIDER

ADHS-Betroffene erzählt: «Im Vergleich mit anderen fühlte ich mich blöd»

Es gibt immer mehr Kinder, die mit Legasthenie, Konzentrationsproblemen wie ADHS oder anderen Lernschwächen diagnostiziert werden. Eine Betroffene, deren ADHS erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde, erzählt von ihren Erfahrungen.
02.04.2023, 06:5402.04.2023, 06:54
Fabiola Hostettler / ch media
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Mit dem Lehrplan 21 sollen Kinder im Kanton Bern vermehrt lernen, selbständig zu lernen. Wie die «Berner Zeitung» und der «Bund» schreiben, habe seither die Zahl von Diagnosen von Lernschwächen der Schülerinnen und Schüler zugenommen. Wie es ist, ohne Diagnose durch die Schulzeit zu kommen, erzählt eine Betroffene gegenüber «BärnToday».

Wann hast du die Diagnose erhalten?

Letzten Sommer, nachdem ich mich bereits zwei Jahre mit dem Thema befasst hatte. Ich war 24 zu diesem Zeitpunkt. Es gestaltete sich schwierig, einen Therapieplatz zu finden. Darum zögerte sich die Diagnose lange hinaus.

Warum hattest du den Verdacht, ADHS zu haben?

In meinem Umfeld erhielt eine erwachsene Frau eine ADHS-Diagnose. Ihre Erzählungen über die Symptome und auch über Probleme, die sich für sie daraus entwickelten, ähnelten meinen Erfahrungen überraschend stark. Zuvor hatte ich oftmals keine Erklärung für vieles, das ich erlebte. Meine Laune beispielsweise konnte unerklärlicherweise stark schwanken, dasselbe mit meiner Konzentration.

Wie haben sich die Symptome in der Schulzeit bemerkbar gemacht?

Wenn mich etwas interessierte, dann wollte ich alles wissen und konnte mich Stunden damit befassen. Gab es aber Dinge, die ich nicht sofort begriff und schnell erledigen konnte, musste ich mich dazu zwingen oder liess es einfach sein. Es fiel mir beispielsweise in der ersten Klasse schwer, zu lernen, Buchstaben schönzuschreiben. Es war jede Woche auf ein Neues ein riesiger Krampf, vor allem auch weil ich bei meinen Mitschülerinnen gesehen habe, wie leicht es ihnen fällt. Im Vergleich mit ihnen fühlte ich mich oft als Versagerin, nicht gut genug oder sogar blöd.

Warum kam es nicht eher zu einer Diagnose?

Wir waren eine laute Klasse, die Jungs waren sehr auffällig. Es gab sogar jemanden mit Asperger-Syndrom, der immer spezielle Aufmerksamkeit erhielt. Ich war zwar auch oft im Zentrum des Geschehens, doch meine schulischen Leistungen waren nicht schlecht. Denn es gefiel mir immer super, wenn ich eine gute Rückmeldung erhielt. Darum lernte ich, mich anzupassen und die Anforderungen so zu erfüllen, dass ich nicht negativ auffalle.

Einmal kam es zu einer IQ-Abklärung, in der fünften Klasse. Die Klassenlehrerin merkte, dass ich meine Sachen schnell erledigte und dann aus Langweile begann, Blödsinn zu machen. Stellte sich heraus, dass mein IQ zwar überdurchschnittlich ist, aber trotzdem nicht genug hoch, um in eine Förderklasse gehen zu dürfen. Ein Sinnbild für viele Situationen, die auch später in meinem Leben noch folgen sollten.

Wärst du froh gewesen, schon damals über dein ADHS Bescheid zu wissen?

Ja, das hätte vieles einfacher gemacht. Ich denke, dass ich zwar gute Strategien entwickeln konnte, um mit den Symptomen umzugehen. Aber so habe ich viel Energie verloren, die ich ins Lernen hätte investieren können. Heute habe ich das Gefühl, dass ich unter meinem Potenzial durch die Schulzeit ging. Doch ich weiss auch, dass ich mich wahrscheinlich stark gewehrt hätte, wäre mir jemand mit dem Thema gekommen. Oftmals schmissen andere in der Klasse mit Beleidigungen um sich, dass ich zu laut bin und vielleicht einfach Ritalin bräuchte, damit ich still bin. Das war sehr verletzend und ich hätte es niemals bestätigen wollen.

Wie gehst du heute mit deinem ADHS um?

Aktuell teste ich ein neues Medikament, dass mir unter anderem helfen soll, mich besser konzentrieren zu können. Gleichzeitig besuche ich regelmässig einen Psychiater, der mir Feedback gibt und hilft, gesunde Strategien zu finden, um mit dem ADHS umzugehen. Glücklicherweise hindert es mich heute grösstenteils nicht mehr, sondern öffnet mir Türen und hilft mir, offen für Neues zu sein. Seitdem ich damals den ersten Verdacht hatte, hat sich vieles verändert. Der Weg ist noch nicht fertig, aber dank der Diagnose verstehe ich mich selbst viel besser.

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