Es ist der zweitletzte Tag meiner Autostopp-Weltumrundung. Meine Freundin Lea und ich sitzen im Backstage-Bereich des Open Air Gampel. Ungeplant. In wenigen Stunden spielt meine Lieblingsband, die Toten Hosen. Und das Unglaubliche: Wir mussten für die begehrten Tickets keinen Rappen bezahlen.
Zu verdanken haben wir das alles dem Segen des Autostopp-Gottes – oder besser gesagt: Alexis. Der junge Franzose arbeitet für das Walliser-Radio Rhône FM und nimmt uns an der Autobahneinfahrt in Sion mit. Es ist Alexis, der uns erzählt, dass dieses Wochenende Open Air ist und heute Abend die Hosen auf dem Programm stehen. Es ist Alexis, der die Idee hat, Backstage-Tickets für uns zu organisieren. Und es ist Alexis, dem dieses Kunststück tatsächlich gelingt.
Wieso Alexis das alles für uns tut, weiss ich nicht. Klar, wir haben ihm erzählt, dass ich mehr als 26 Monate gebraucht habe, um per Autostopp von Winterthur bis ins Wallis zu gelangen. Doch er hätte auch einfach «Wow» sagen, uns in Gampel absetzen und zur Arbeit fahren können. Schon dafür wären wir ihm sehr dankbar gewesen. Doch Alexis will uns offensichtlich ein weiteres unvergessliches Reiseerlebnis bescheren. Es ist, als will er ein Ausrufezeichen setzen hinter all die Einladungen, Geschenke und netten Gesten, die ich während meiner Reise auf der ganzen Welt entgegennehmen durfte.
Der unglaubliche Alexis, das Open Air Gampel, die Toten Hosen sowie die Aussicht auf das kurz bevorstehende Wiedersehen mit Familie und Freunden – eigentlich sollte ich der glücklichste Mensch sein auf Erden. Doch dem ist nicht so. Mir ist melancholisch zumute.
Alexis hat uns vom Terroranschlag in Barcelona erzählt. Wir wussten bis jetzt nichts davon, weil wir die Nacht zuvor im Zelt verbracht hatten. Die Nachricht ist ein Schock für uns. Schliesslich kommen wir direkt aus Barcelona. Zwei Tage vor den Anschlägen waren wir noch durch die Stadt geschlendert. Ich hatte sogar Fotos gemacht von den Menschenmassen auf der Flaniermeile La Rambla.
„Es hätte auch uns treffen können“, schiesst es mir immer wieder durch den Kopf. Ein Gedanke, den ich auf meiner ganzen Reise sonst nie haben musste. Erst jetzt, in der allerletzten Woche. Ich bin aufgewühlt, traurig – und verdammt wütend auf die feigen Täter.
Die Situation überfordert mich emotional. Zumal um uns herum zehntausende Menschen in Trink- und Feierlaune sind. Wir sind zwar wieder in der Schweiz, aber ich fühle mich in diesem Moment irgendwie wie ein komplett Aussenstehender. Ich komme mir vor wie ein Fremder im eigenen Land.
Lea geht es ähnlich. Erst indem wir miteinander über das Gefühlschaos reden, können wir die Melancholie Stück für Stück überwinden. Ein heftiger Sturm zieht über das Festgelände. Es regnet in Strömen. Als das Unwetter vorbei ist, hebt sich auch unsere Stimmung. Als spät nachts die Toten Hosen auf der Bühne stehen, sind die düsteren Gedanken ganz verflogen. Und als die Düsseldorfer zum Abschluss singen „An Tagen wie diesen, wünscht man sich Unendlichkeit“, habe ich Tränen in den Augen. Freudentränen.
Das Konzert verfolgen auch Philipp und Walä. Die beiden Kumpels bringen uns am nächsten Morgen durch den Lötschbergtunnel und bis zur Raststätte Grauholz in Bern. Dort nimmt uns Max mit. Der Renter ist der 1009. Fahrer auf meiner Weltreise – und der letzte. Max muss eigentlich nach Dübendorf, doch er macht einen kleinen Umweg für uns uns und setzt uns direkt im Zentrum von Winterthur ab. Geschafft!
Wir setzen uns in eine Gartenbeiz und machen ein Video für unsere Familien sowie unsere engsten Freunde: „Hallo zusammen! Wir sind zurück und werden hier in der Stadt sein, bis nichts mehr offen hat. Wir freuen uns über alle, die Zeit und Lust haben auf ein Bierchen mit uns.“ Es dauert keine Stunde, bis die ersten eintreffen. Jetzt habe ich nicht mehr nur Tränen in den Augen, sondern heule wie ein Baby. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein!
Ja, die Schweiz ist ein hartes Pflaster für Autostopper ;)
Ich wünsche euch einen guten Start zurück im Alltag und hoffe, dass du Watson und damit auch uns erhalten bleibst.
Danke! :)