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Müssen Juden bei einem Importverbot von koscherem Fleisch auswandern?

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Was orthodoxen Juden bleibt, falls der Import von koscherem Fleisch verboten wird

25.03.2019, 07:19
Hugo Stamm
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Die Alliance Animal Suisse, ein Zusammenschluss von drei Tierschutzorganisationen, will ein Importverbot von sogenannten Qualprodukten durchsetzen. Darunter fallen die Leber von Stopfgänsen, Pelz oder Reptilienleder.

Betroffen wäre möglicherweise auch koscheres Fleisch. Dieses stammt von Tieren, die geschächtet wurden. Denen also ein Metzger Halsschlagader und Kehle durchgeschnitten hat, damit ihr Blut ausläuft.

Diese Form des Schlachtens wenden Juden und Muslime an. Für beide ist das Schächten ein religiöses Ritual und Gebot. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass der Islam das Betäuben der Tiere zulässt, das Judentum nicht. Würde also ein Importverbot von koscherem Fleisch verboten, wären die Muslime kaum betroffen, weil betäubte Tiere beim Schächten nicht leiden müssen.

Eine ähnliche Motion, die vom SP-Nationalrat Matthias Aebischer vor zwei Jahren lanciert worden war, erlitt Schiffbruch. Der Ständerat lehnte den Vorstoss damals ab.

Klappt's nicht, kommt die Initiative

Im zweiten Anlauf stehen die Chancen besser, weil die aktuelle Motion aus der anderen Ratsecke stammt: von der SVP-Parlamentarierin Barbara Keller-Inhelder. Unterschrieben haben das Begehren bereits 43 Nationalräte aus allen Fraktionen.

Strenggläubige Juden sehen bei einem Importverbot von koscherem Fleisch eine Einschränkung der Religionsfreiheit.

Sollte die Motion wieder scheitern, wollen die Tierschützer eine Volksinitiative starten. Dabei könnten sich die Initianten durchaus Chancen ausrechnen, stossen doch Tierschutz-Anliegen in breiten Teilen der Bevölkerung auf Sympathie. Strenggläubige Juden hingegen sehen bei einem Importverbot von koscherem Fleisch eine Einschränkung der Religionsfreiheit.

Das Schächtverbot wurde in der Schweiz bereits im Jahr 1894 eingeführt. 2003 erhielten die Juden dann die Erlaubnis, koscheres Fleisch zu importieren. Dies würde bei einer erfolgreichen Volksabstimmung wieder verboten. Die Motion hingegen lässt in dieser Frage einen Spielraum offen.

Juden dürfen ausschliesslich «reines Fleisch» von geschächteten Tieren essen. Ausgeschlossen ist auch Fleisch von Tieren, die eines natürlichen Todes gestorben sind. Dabei berufen sie sich auf das 5. Buch Moses (14:21), in dem es heisst: «Kein Aas dürft ihr essen …»

Ist das Blut Sitz der Seele?

Das gleiche Buch hält auch fest, dass das Blut das Sinnbild des Lebens und Sitz der Seele sei. Es geht übersetzt darum, dass Gläubige nicht die Seele von anderen Wesen essen dürfen. Die fünf Bücher Moses sind in die Thora sowie ins Alte Testament eingegangen.

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Strenggläubige Juden argumentieren, dass die Tiere beim Schächten kaum leiden müssen. Durch den gezielten Schnitt durch Halsadern, Luft- und Speiseröhre komme es zu einem sofortigen Abfall des Blutdrucks. Deshalb würden selbst grosse Tiere wie Kühe in 25 bis 30 Sekunden bewusstlos.

Das Schächten aus religiösen Gründen ist aus heutiger Sicht fragwürdig. Die Autoren des Buch Moses gingen vor über 3000 Jahren davon aus, dass das Blut Sitz der Seele sei. Eine These, die in keiner Weise mehr plausibel ist.

Es gäbe auch die Möglichkeit der vegetarischen Ernährung

Ausserdem gibt es gute Gründe, das damalige Schächtgebot als hygienische Massnahme zu betrachten. Blut war in der Sommerhitze des Nahen Ostens ein Biotop für Krankheitserreger. Schliesslich gab es noch keine Kühlschränke. Religiöse Gründe für das Verbot, Blut zu trinken, waren schliesslich wirkungsvoller als reine Hygienesorgen.

Für den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) wäre ein Importverbot von koscherem Fleisch ein Desaster. «Es bliebe einem religiösen Juden nichts anderes übrig, als auszuwandern», sagte Präsident Herbert Winter gegenüber dem «Tages-Anzeiger».

Nur: Es gäbe auch die Möglichkeit der vegetarischen Ernährung. Bei den vielen religiösen Geboten, die orthodoxe Juden einhalten müssen, wäre ein Fleischverzicht kaum das grösste Opfer.

Hugo Stamm; Religionsblogger
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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194 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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aglio e olio
23.03.2019 10:16registriert Juli 2017
Das Argument der Einschränkung der Religionsfreiheit ist m.M.n. nicht gültig.
Meines Wissens schreibt keine Religion Fleischkonsum vor.
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Picker
23.03.2019 09:40registriert Januar 2016
"Das Schächtverbot wurde in der Schweiz bereits im Jahr 1894 eingeführt. 2003 erhielten die Juden dann die Erlaubnis, koscheres Fleisch zu importieren."

Also waren alle strenggläubigen, hier lebenden Juden bis 2003 Vegetarier? 🤔
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Hillman
23.03.2019 09:59registriert Dezember 2018
Endlich! Werde sofort unterschreiben falls die Initiative käme!
Warum nur hat der Mensch das Gefühl über den Tieren zu stehen und sie derart behandeln zu dürfen? Und dies dann auch noch "religiös" begründet!
"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." Immanuel Kant (1724-1804)
Traurig dass man über das überhaupt diskutieren muss.
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