
Illustration: FH SCHWEIZ/Flavia Korner
Work in progress
Maximale Eigenverantwortung, selbstorganisierte Teams: Soziokratie ist wieder in Mode. So schön dieses Konzept auch klingt und in der Praxis sein kann – es ist eine Gratwanderung.
04.05.2021, 11:3630.07.2021, 10:22
Macht mehr Eigenverantwortung Mitarbeitende glücklicher? «Ja», sagt der Zeitgeist. «Jein», sagt Anna Weiner. Sie ist vom Berufsverband SBAP anerkannte Psychologin, Unternehmensberaterin und Coach. «Es ist wie so vieles im Leben individuell.»
Drei Pfeiler als Grundgerüst
Selbstorganisierte, eigenverantwortliche Teams, flache Hierarchien, Soziokratie – neue Arbeitsstrukturen sind wieder am kommen. «Sie entsprechen einer neuen Arbeitsweise, dem Bedürfnis nach Agilität», so Weiner, die darin viel Positives sieht. «Aber sie setzen auch voraus, dass man die Leute dazu befähigt.» Oder auf Englisch: empowert. Nicht immer mache diese Arbeitsform, die auf maximalem Vertrauen in die Mitarbeitenden beruht, auch Sinn. «Sie erfordert hochqualifizierte Mitarbeitende, eine hohe emotionale Intelligenz und ausgeprägte soft Skills», so Weiner. Ein Beispiel aus der Wirtschaft wäre der Streaming-Riese Netflix. Dazu später.

Anna WeinerBild: zvg
Nebst den Eigenschaften und Fähigkeiten der Mitarbeitenden sind die Rahmenbedingungen der strukturellen Führung genauso wichtig und beruhen auf drei Pfeilern:
Willst du als Mitarbeiter überhaupt mehr Eigenverantwortung? Laut der Psychologin ist dies einer der wichtigsten Faktoren überhaupt: «Wenn keine Motivation dafür vorhanden ist, dann macht mehr Eigenverantwortung die Leute im Gegenteil unglücklich und wirkt kontraproduktiv.»
Zweitens: Kannst du überhaupt mehr Verantwortung übernehmen im Job, bist du dazu befähigt? Wenn die Chefin von dir etwas verlangt, was du gar nicht kannst, wirst du überfordert und hängst ab.
Und drittens müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Herrschen in einem Unternehmen die richtige Kultur und die entsprechenden Strukturen, die ein selbstverantwortliches Arbeiten zulassen? Weiner: «Es ist die Aufgabe von Vorgesetzten, das Wollen und Können zu erkennen und dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen, also auch das Dürfen, gegeben sind.»
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Die Chefin oder der Chef kann sich nicht aus der eigenen Rolle stehlen, auch nicht in einer Soziokratie. «Es ist seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Prozesse laufen, gegen aussen zu kommunizieren und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen.» Oder anders: Muss von aussen korrigierend eingegriffen werden, ist dies Chefsache.
Dass Führungspersonen sich unter dem Vorwand von selbstorganisiertem Arbeiten aus der Verantwortung stehlen, hat Weiner schon oft erlebt, «aus eigener Erfahrung aber auch als Coach».
Ein bekanntes Beispiel, wo Soziokratie nicht ganz so funktionierte wie im Lehrbuch, ist auch der Fall eines Reiseanbieters. Dieser musste aufgrund der Pandemie letzten Sommer Stellen abbauen. Mitarbeiter sollten sich für die wenigen verbliebenen Jobs neu bewerben, wobei die Kollegen in einem Wahlprozedere abstimmen sollten, wer diese erhält. Etliche Angestellte verzichteten freiwillig und kündigten, der Fall warf medial hohe Wellen.
Anna Weiner stellt klar: «In selbstorganisierten Teams gilt schon auch, dass wer die Leistung nicht bringt, unter Druck gerät. Das gehört dazu.» Das könne auch soweit gehen, dass ein Team ein Mitglied zum Gehen auffordert. Allerdings muss dies aus einem gesund funktionierenden Team heraus passieren. Und nicht auf wirtschaftlichen Druck von oben herab. Für selbstorganisiertes Arbeiten muss gemäss Weiner im Team eine ausgeprägte Leistungskultur vorhanden sein, «die von allen mitgetragen wird».
Hier wären wir wieder bei «Netflix». Die Firma scheint mit einer «Null-Regel-Führung» Erfolg zu haben. Die Freiheit der Mitarbeitenden geht soweit, dass sie unbegrenzt Ferien nehmen können, theoretisch. Ausserdem werden sie sogar für Tech-Verhältnisse überdurchschnittlich gut bezahlt. Die Strategie dahinter: Möglichst die besten Leute auf dem Markt gewinnen, welche die extrem ausgeprägte Leistungskultur mittragen. Es ist eine Gratwanderung, die nur funktioniert, wenn die Balance zwischen einer fähigen Führung, talentierten und willigen Mitarbeitenden sowie dem richtigen Spirit stimmt. Bisher scheint sie zu gelingen.
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