Gerade in so aufreibenden Zeiten wie jetzt tut es gut, sich mal von der Realität auszuklinken. Sich ganz und gar von Virtualität einhüllen zu lassen, sodass kein Spalt mehr offen bleibt, durch den die Wirklichkeit dringen kann.
Das gelingt, wenn man sich eine klobige schwarze Brille aufsetzt und sich grosse Kopfhörer überzieht. Urplötzlich findet man sich dann in einer anderen Welt wieder. Man schaukelt auf einem Kahn durch eine in warme Pastellfarben getauchte Landschaft, schaut fliegenden Fischen zu und weiss bald selber nicht mehr, ob man sich nun auf oder unter der Wasseroberfläche befindet.
So ist das in «Transition», einem Virtual-Reality-Erlebnis der niederländischen Künstler Joost Jordens und Mike von Rotz. Es ist einer von insgesamt zehn Beiträgen, die diese Woche am Genfer Filmfestival Tous Ecrans in der Kategorie Virtual Reality (VR) präsentiert wurden. Damit betritt das Festival Neuland: Zum ersten Mal fand in der Schweiz ein internationaler Wettbewerb für VR statt.
«Für uns war es ein logischer Schritt, eine eigene Kategorie für Virtual Reality zu schaffen», sagt der Festival-Direktor Emmanuel Cuénod. Virtual Reality lasse sich weder dem Film noch dem Videogame zuordnen. Es ist ein gänzlich neues Medium. Die oft verwendete Bezeichnung VR-Filme passt deshalb nur bedingt. Anders als beim Film gibt es hier keinen Rahmen mehr, der das Fiktionale begrenzt. Der Betrachter ist selber in der virtuellen Welt und kann darin in alle Richtungen blicken – insofern ist jede VR-Erfahrung interaktiv.
Besonders schön zeigt sich das in «Sens VR». Der Betrachter navigiert sich hier einzig mit seinem Blick durch eine vertrackte abstrakte Bildwelt. Dabei weist ihm ein Pfeil den Weg, visiert er diesen an, öffnet sich ein neuer Raum, und die Reise geht weiter. Ähnlich minimalistisch gehalten ist «Drawing Room». Man versinkt hier förmlich in den Tuschzeichnungen des Künstlers Jan Rothuizen. Dank der neuen Technologie ist für den Niederländer ein Traum wahr geworden. «Ich wollte schon immer in meinen Zeichnungen wohnen», sagt er.
Natürlich müssen die virtuell erzeugten Welten nicht zwingend abstrakt sein. In «Mars 2030» lässt sich unser Nachbarplanet bereisen. Das Studio Fusion hat dafür mit der NASA zusammengearbeitet und den Roten Planeten aufgrund von Fotografien möglichst akkurat in Computergrafik nachgebildet.
Hier wird man zum Astronauten, kann seine Hände bewegen, Gegenstände fassen, Marsgestein untersuchen und mit einem Rover ferne Krater besuchen.
Doch auch reale Filmaufnahmen lassen sich für VR-Erlebnisse nutzen. Gedreht wird die Szene dann mit einer 360-Grad-Kamera. Mehrere Linsen blicken in verschiedene Richtungen und ermöglichen so eine Rundumsicht. «Stuck in the Middle With You» lässt eine Tanzaufführung in einer ungewohnten Perspektive, mitten auf der Bühne erleben. Man fühlt sich den herumwirbelnden Körpern dabei so nahe, dass man sich erst einmal als Störfaktor vorkommt. Umso mehr, wenn die Tänzer mit einem zu sprechen beginnen, sobald man sie anschaut.
«The Future of Music» hingegen kombiniert Aufnahmen von realen Menschen mit Computergrafik. Man befindet sich hier quasi im Klangkörper der Musik selber und erlebt, wie rund um einen herum ein Beat seine Form annimmt.
Vieles wirkt experimentell, die meisten Erlebnisse dauern nur wenige Minuten – und hallen, wenn man die Brille abnimmt, umso länger im Kopf nach. Etwa so müssen sich die Menschen gefühlt haben, die Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Bewegtbilder gesehen haben. Doch nicht nur für die Betrachter ist das neue Medium aufregend, sondern auch für die Künstler. In Genf ist viel Pioniergeist zu spüren. «Es ist der spannendste Moment für Geschichtenerzähler, seit Ende des 19. Jahrhunderts der Film erfunden wurde», sagt Nicolas Alcala vom VR-Studio Lighthouse. Es ginge darum, eine neue Sprache zu entwickeln, welche die Kunst und die Unterhaltungsindustrie der nächsten Dekaden prägen werde.
Wie sich der Film zuerst vom Theater und der Fotografie loslösen musste, so muss sich nun VR vom Film und vom Videogame emanzipieren. Und damals wie heute gibt es einige Limitierungen hinsichtlich der Technik. Die Headsets sind noch klobig, die Auflösung könnte besser sein. Doch für Nicolas Alcala ist es eine Frage der Zeit, bis die Brillen angenehm zu tragen und schliesslich gar nicht mehr spürbar sind. Auch Festival-Direktor Emmanuel Cuénod glaubt an das Potenzial von VR. Seit je gäbe es ein grosses Bedürfnis, in künstliche Welten einzutauchen, und kein anderes Medium schaffe das bisher so vollumfänglich wie die Virtual Reality.
Spätestens seit Facebook vor drei Jahren das VR-Start-up Oculus gekauft hat, befasst sich nicht mehr nur die künstlerische Avantgarde mit dem neuen Medium, sondern auch Hollywood, das Silicon Valley und die Game-Industrie. Und selbstverständlich haben sich auch Dutzende Start-ups gebildet, die sich gänzlich der neuen Technologie verschrieben haben.
Eines davon ist Jaunt. «Wir wollen Netflix für VR werden», sagt der Gründer Arthur van Hoff. Einerseits hat das Unternehmen eine Plattform geschaffen, über welche die Produktionen von anderen Künstlern und Studios verbreitet werden. Anderseits produziert Jaunt selber VR-Inhalte und hat dafür sowohl in Hollywood als auch in Schanghai ein eigenes Studio eröffnet. Für die kürzlich veröffentlichte sechsteilige Mini-Serie «Invisible» konnte «Bourne Identity»-Regisser Doug Liman verpflichtet werden.
Ob etablierter Regisseur oder junger Avantgarde-Künstler – stets geht es darum, die richtige Erzählform für ein neues Medium zu finden. Zu den VR-Enthusiasten gehört der Däne Johan Knattrup Jensen, der in Genf mit dem Mutter-Tochter-Drama «EWA Out of Body» präsent war. Der Betrachter erlebt hier einen traumatisierenden Moment im Leben eines Mädchens. Teils befindet er sich dabei in ihrem Körper, blickt aus ihren Augen; teils ausserhalb und sieht auf sie hinab. In einem gewissen Sinne können VR-Erlebnisse einen sogar noch mehr berühren als herkömmliche Filme, ist man den Menschen hier doch so nahe. Man schaut nicht mehr durch ein Bildschirmfenster, sondern begibt sich in ihre Welt.
«VR kann helfen, die Empathie zu steigern», ist Arthur Tres überzeugt. Denn das Medium macht es möglich, in den Körper eines anderen Menschen versetzt zu werden. Die Installation «The Machine To Be Another», die Tres mitentwickelt hat und die auch in Genf aufgebaut wurde, treibt dies auf die Spitze. Es sitzen sich hier zwei Betrachter mit einer VR-Brille gegenüber. An beiden Headsets ist eine Kamera angebracht, die auf den eigenen Körper gerichtet wird. In der virtuellen Realität sieht der Betrachter dann aber nicht seinen Körper, sondern den des Gegenübers, da die Videostreams vertauscht werden.
Je länger man sich so bewegt und ansieht, desto mehr hat man das Gefühl, ein anderer zu sein. Am Schluss steht man dann sich selber gegenüber und reicht sich die Hand.