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Nokia 9 im Test: Besser als iPhone XS, Galaxy S10 oder Huawei P30 Pro?

Nokia 9
Das Nokia 9: Ich konnte es über einen Monat ausgiebig testen.bild: watson
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Beinahe hätte Nokia die Handy-Kamera neu erfunden – aber der Test enthüllt ein Problem

Nokia ist bekannt für preiswerte, solide Smartphones. Aber können die Finnen auch im Highend-Segment mithalten? Der mehrwöchige Alltagstest des Nokia 9 enthüllt die schonungslose Antwort.
01.05.2019, 14:5902.05.2019, 14:12
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Nokia hat zuletzt mit guten Budget- und Mittelklasse-Smartphones viele Sympathien zurückgewonnen. Mit dem Nokia 9 greift der ehemalige Handy-Dominator nun aber wieder in der Oberklasse an. Nichts weniger als die erste und weltweit einzigartige Fünffach-Kamera soll die Konkurrenz in den Schatten stellen.

Das Spannende daran: Die Finnen und der deutsche Kamera-Partner Zeiss pappen nicht einfach noch mehr Linsen auf die Rückseite, sondern nutzen ihre eigene Kamera-Technologie, die Handy-Fotos auf ein neues Level heben soll.

Wie lange Zeiss und HMD Global, der finnische Hersteller der neuen Nokia-Smartphones, an der Fünffach-Kamera getüftelt haben, will mir der federführende Ingenieur nicht verraten. Seine Körpersprache lässt erahnen, dass es länger als geplant gedauert hat. Doch hat sich der Effort gelohnt?

Ich habe das rund 650 Franken teure Nokia 9 PureView, das sich primär an experimentierfreudige Hobby-Fotografen richtet, über einen Monat im Alltag genutzt. Kommen wir also ohne Umschweife zu den wichtigsten Befunden:

Ein Hinweis vorab: Die technischen Details folgen am Ende des Artikels.

Der erste Eindruck

Das Nokia 9 ist schick, aber für kleine Hände eine Spur zu breit.

Nokia 9
Die Eckdaten: 0,8 cm dick und 172 Gramm schwer bei einem 5,99-Zoll-Display.Bild: watson

Wohlwollend gesagt kommt die Vorderseite klassisch-elegant daher, böse Zungen würden sie langweilig oder altbacken schimpfen. Das Design orientiert sich am Nokia 8 von 2017, wobei die Ränder ums Display deutlich geschrumpft sind. Dass wir hier kein moderneres, randloses Display sehen, liegt vermutlich daran, dass das Nokia 9 mutmasslich schon 2018 hätte erscheinen sollen, wegen technischer Probleme mit der aufwändigen Fünffach-Kamera aber erst jetzt verfügbar ist.

Das Nokia 9 ist relativ dünn und für seine Grösse (Sechs-Zoll-Display) eher leicht. Auch die Gewichtsverteilung ist gut gelungen. Einigermassen grosse Hände vorausgesetzt liegt es angenehm in der Hand.

Doch kommt hier bereits das erste Aber.

Die Rückseite aus Glas ist ein Hingucker, aber spiegelglatt, sprich viel zu rutschig.

Bild
bild: watson

Ist es eine Seife oder ein Handy? Die extrem glatte Rückseite hat den unschönen Effekt, dass das Handy bereits auf leicht geneigten Unterlagen unwillkürlich ins Rutschen gerät – und somit ständig Gefahr läuft, irgendwo runterzufallen. Ich hab in all den Jahren kaum ein Smartphone gesehen, das leichter aus den Händen glitscht. Wer mit dem Nokia 9 für rund 650 Franken liebäugelt, ist gut beraten, noch ein paar Franken in eine Schutzhülle zu investieren.

Dank griffiger Kanten, die durch dünne Metallrähmchen akzentuiert werden, liegt es trotz aalglatter Rückseite einigermassen gut in der Hand.

Nokia 9
Bild: watson

Das Handy gibt es nur in einer Farbe, die ich als Metallic-Dunkelblau beschreiben würde. Je nach Lichteinfall wirkt das Blau heller oder dunkler.

Bild
bild: watson

Die Rückseite ist an den Kanten leicht abgerundet. Nach über einem Monat im Alltag (ohne Schutzhülle) sind keinerlei Kratzer sichtbar.

Fingerabdrücke sind auf der eher dunklen Glasrückseite kaum auszumachen.
Fingerabdrücke sind auf der eher dunklen Glasrückseite kaum auszumachen.bild: watson

Die Fünffach-Kamera ist bündig im Gehäuse verbaut, steht also nicht hervor.

Nokia 9
bild: watson

Das Nokia 9 mit 128 GB Speicher (nicht erweiterbar) kostet offiziell 680 Franken. Im Online-Handel erhält man es aktuell ab 630 Franken (Stand Mai 2019).

Nokia 9
Der interne Speicher lässt sich nicht erweitern, was bei einem Handy, das die Kamera in den Fokus rückt und unkomprimierte RAW-Aufnahmen erlaubt, einigermassen merkwürdig ist.Bild: watson

Was taugt die Fünffach-Kamera wirklich?

Das Juwel ist die Penta-Kamera, die zwei Farb- und drei Monochromsensoren vereint. Der ToF-Sensor für die Schärfentiefe (ganz rechts) ist eigentlich eine sechste Kamera. Das Blitzlicht (links) hat ein ...
Das Juwel ist die Penta-Kamera, die zwei Farb- und drei Monochromsensoren vereint. Der ToF-Sensor für die Schärfentiefe (ganz rechts) ist eigentlich eine sechste Kamera. Das Blitzlicht (links) hat einen minim abstehenden Metallrahmen.bild: watson

Um es gleich vorneweg zu sagen: Diese Smartphone-Kamera richtet sich an Fotografen, die den Pro-Modus nicht scheuen und gerne das Optimum aus RAW-Dateien herauskitzeln. Wer oft und gerne Fotos nachbearbeitet, liegt hier richtig. Schnappschützen hingegen, die alle Einstellungen lieber der Automatik überlassen und auf knallige Fotos stehen, sind bei Huawei und Co. deutlich besser aufgehoben.

Dafür hat die Nokia-9-Kamera andere Stärken, wie die Vergleichsaufnahmen in der folgenden Slideshow zeigen.

Geknipst mit dem Nokia 9: Das taugt die Fünffach-Kamera im Vergleich mit anderen Smartphones

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Geknipst mit dem Nokia 9: Das kann die Fünffach-Kamera
Nokia will Smartphone-Fotos auf ein neues Level bringen. Unsere Diashow zeigt, was mit der 5-fach-Kamera wirklich möglich ist ...
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Gute Bildqualität, aber es gibt einen Haken ...

Da beim Nokia 9 alle fünf Linsen gleichzeitig auslösen und dabei 60 bis 240 Megapixel an Bilddaten zu einer Aufnahme verarbeitet werden müssen, dauert es teils über zehn Sekunden, bis das Foto bereit ist. Direkt nach der Aufnahme sieht man nur das von der zentral positionierten Linse geschossene Bild. Man muss sich also in Geduld üben, bis das finale Foto, das die Bilddaten aller fünf Linsen vereint, bestaunt werden kann. Während der Bildverarbeitung kann man normal weiterknipsen, es dauert aber entsprechend länger, bis alle Fotos im Hintergrund verarbeitet und gespeichert sind.

Wer seine Fotos in der Regel nachbearbeitet, hat damit vermutlich keine Probleme, alle anderen dürfte die ungewohnte Wartezeit sehr wohl stören. Nokias Ansatz hat aber einen entscheidenden Vorteil: Da mehr Bildinformationen als bei anderen Handy-Kameras gespeichert werden, kann die Fotoqualität in der Nachbearbeitung deutlich gesteigert werden – sofern man das Know-how hat.

Der Fokus von Nokia liegt nicht darin, dem Fotografen ein möglichst breites Spektrum an Brennweiten (Ultraweitwinkel bis Zoom) zur Verfügung zu stellen, sondern die Aufnahme nachträglich optimieren zu können.

Was Nokia anders als Huawei, Samsung, Apple und Co. macht:

Die meisten Handy-Hersteller verbauen heutzutage unterschiedliche Kamera-Sensoren, um dem Fotografen ein möglichst breites Spektrum an Brennweiten (Ultraweitwinkel bis Zoom) zur Verfügung zu stellen. Wer ein neues Smartphone von Huawei, Google oder Oppo in der Hand gehalten und Nachtmodus, Zehnfach-Zoom oder Weitwinkelmodus ausprobiert hat, weiss wie praktisch diese Kameras mit mehreren Linsen sind. Nokia geht einen ganz anderen Weg.

Das Herzstück des Nokia 9 ist die auffällige Penta-Kamera, die zwei Farb- und drei Schwarzweiss-Sensoren vereint. Anders als die Konkurrenz nutzt Nokia fünf Kamera-Sensoren mit jeweils gleicher Auflösung, Blende und Brennweite (5 x 12 MP, f/1.8, 28 mm), die nur ein Ziel haben: eine möglichst hohe Bildqualität. An dieser gibt es, sofern genug Licht vorhanden ist, wenig zu bemängeln. Die Aufnahmen sind detailreich, glänzen mit für Handy-Aufnahmen aussergewöhnlicher Schärfe und übersättigte Farben oder weichgezeichnete Fotos, wie bei Handy-Kameras oft zu sehen, sucht man vergeblich.

Nokia vs. Huawei vs. Apple

Von oben nach unten: Nokia 9, Huawei P30 Pro und Apple iPhone X.
Von oben nach unten: Nokia 9, Huawei P30 Pro und Apple iPhone X. bild. gsmarena
Welches Foto gefällt dir besser?

Der Time-of-Flight-Sensor (quasi eine 3D-Kamera) misst bei Bokeh-Aufnahmen die Entfernung von unterschiedlichen Objekten zur Kamera und erstellt eine 3D-Karte des fotografierten Bereichs. Statt den ganzen Hintergrund gleichmässig weichzuzeichnen, werden Objekte je nach Distanz unterschiedlich stark verwaschen dargestellt. Die von Handy-Kameras stets künstlich berechnete Schärfentiefe soll so realistischer wirken.

Fokus und Schärfentiefe lasen sich nach der Aufnahme stufenlos regulieren. Besonders praktisch: Da Nokia mit Google zusammenarbeitet, können Schärfentiefe, Fokus und andere Effekte direkt in Googles Foto-App bearbeitet werden. Ambitioniertere Fotografen importieren die RAW-Dateien in Lightroom, zumal Nokia auch mit Adobe zusammenspannt, so dass die Bearbeitung von RAW-Daten aus dem Nokia 9 vollständig unterstützt wird.

Drei Monochrom-Linsen bringen Kontrast in Schwarzweiss-Aufnahmen.

Nokia 9
bild: watson

Gut zu wissen: Auf Ultraweitwinkel-Aufnahmen, wie sie insbesondere LG, Huawei, Oppo und Samsung mit stark unterschiedlichen Brennweiten ermöglichen, muss man verzichten. Auch beim Zoom und bei Nachtaufnahmen bleibt Nokia meilenweit hinter der asiatischen Konkurrenz zurück.

Nervig: Die Kamera-App braucht stets ein bis zwei Sekunden, um zwischen den Aufnahme-Modi (Pro, Panorama, Video etc.) zu wechseln.

Gut hingegen: Modi, die man nie nutzt, zum Beispiel Zeitlupe oder Zeitraffer, kann man in den Einstellungen ausblenden, so dass die eher überladen wirkende Kamera-App viel übersichtlicher wird.

Die Video-Eigenschaften des Nokia 9 sind, bis auf eine Ausnahme, eher wenig spektakulär: 4K-Videos sind möglich (nur 30 fps), allerdings fehlt eine optische Bildstabilisierung. Die üblichen Funktionen wie Zeitlupe und Zeitraffer sind an Bord, insgesamt kann die Video-Qualität aber beispielsweise nicht mit dem teureren Samsung Galaxy S10 mithalten.

Eher ungewöhnlich sind die Modi für Split-Screen- und Bild-in-Bild-Aufnahmen, die Besitzern eines älteren Nokia 8 vermutlich bekannt vorkommen. Das Nokia 9 nimmt hierzu Videos (und Fotos) mit der Front- und Hauptkamera gleichzeitig auf.

Das Zwischenfazit zur Kamera:

Nokia 9
Bild: watson

Über Nokias Penta-Kamera kann man so ziemlich alle Meinungen hören: Von heller Begeisterung bis grottenschlecht reichen sie. Das liegt primär daran, dass die Kamera massiv enttäuscht, wenn man Funktionen wie Mega-Zoom, Ultraweitwinkel oder Nachtmodus erwartet. Dafür wurde die Kamera auch nicht gebaut. Die fünf Linsen sollen simultan möglichst viel Licht und somit Details einfangen, die in der Nachbearbeitung hervorgeholt werden können.

Die Kamera ist somit nichts für Ungeduldige, sondern für Fotografen, die sich für ihre Motive Zeit nehmen und die zahlreichen Bearbeitungsmöglichkeiten direkt auf dem Handy oder später am PC schätzen. Experimentierfreudige Fotografen können mit der Penta-Kamera ihren Spass haben, alle anderen sind mit klassischen Dual- und Dreifach-Kameras, wie sie heute fast alle Hersteller anbieten (übrigens auch Nokia) weit besser bedient.

Einen guten Eindruck der Kamera vermittelt dieses Video:

Pro und Kontra Nokia-9-Kamera

+ sehr gute Bildqualität bei gutem Licht
+ gute Resultate bei Nachbearbeitung (da viele Bilddaten gespeichert werden)
+ sehr guter Bokeh-Effekt (Tiefenunschärfe)
+ Monochrom-Modus
+ Front- und Hauptkamera filmen gleichzeitig (Split-Screen- und Bild-in-Bild-Modus für Videos und Fotos)
- Bildverarbeitung dauert bis zu zehn Sekunden
- Kamera-App langsam
- keine Ultraweitwinkel-Aufnahmen
- mässiger Zoom (kein optischer Zoom)
- kein Nachtmodus (kein optischer Bildstabilisator)

Ist das Display gut?

Bild
bild: watson

Relativ breite Ränder um das 5,99 Zoll grosse Display (2880 x 1440 Pixel) mögen heutzutage nicht mehr zeitgemäss sein. Persönlich stört mich dies indes nicht. Statt Gimmicks wie ein Curved-Display bekommt man ein hochwertiges, gestochen scharfes OLED-Display (538 ppi), das auch bei der maximalen Helligkeit gut mit den aktuell besten Handy-Displays mithalten kann.

Parallel zum Nokia 9 habe ich das mindestens 200 Franken teurere Galaxy S10 von Samsung genutzt, das aktuell eines der besten oder gar das beste Display hat. Im Alltag sehe ich kaum einen Unterschied. Wer allerdings bei direkter Sonneneinstrahlung (mit Sonnenbrille) versucht ein Foto zu knipsen, ist mit dem noch helleren Display des teureren Samsung-Handys im Vorteil.

Im Labortest des Techportals GSM Arena bestätigt sich der subjektive Eindruck: Das Display des Nokia 9 hält gut mit den teureren Geräten von Apple, Samsung oder Huawei mit.

Der Kontrast des OLED-Displays im Nokia 9 ist top.
Der Kontrast des OLED-Displays im Nokia 9 ist top.bild: gsmarena

«Der Sonnenlichtkontrast auf dem Nokia 9 Pureview ist hervorragend und hat einen neuen Rekord in unserer Allzeit-Statistik aufgestellt, genau wie das erste Nokia 808 Pureview damals», schreibt GSM Arena.

Im Automatik-Modus zeigt das Display eher kräftige Farben. Wem das zu bunt ist, kann die Sättigung in den Einstellungen von Android 9 anpassen.

Das Display hat keinen echten Always-on-Modus. Nokia-typisch erscheinen aber Infos wie Zeit, Datum und Hinweise auf neue Benachrichtigungen auf dem inaktiven Display, sobald es aufgehoben wird oder am Ladekabel hängt. Darüber hinaus kann das Handy per Doppeltippen auf das Display aufgeweckt werden.

Wie lange hält der Akku?

Nokia 9
Bild: watson

Im neuen Nokia-Handy steckt ein Akku mit einer bescheidenen Kapazität von 3320 Milliamperestunden (mAh). Das ist eher Mittel- als Oberklasse. Persönlich komme ich damit ohne aktivierten Stromsparmodus trotzdem problemlos durch den Tag. Dies liegt vermutlich auch daran, dass Android 9 im Alltag automatisch dafür sorgt, dass wenig oder nie genutzte Apps im Hintergrund nicht den Akku belasten können.

So weit, so durchschnittlich: Für zwei volle Tage Laufzeit wäre dennoch ein Akku mit mindestens 4000 mAh angesagt (wie es etwa bei Huaweis Top-Modellen Standard ist).

Positiv sei erwähnt, dass sich der Akku mit dem mitgelieferten Schnellladegerät via USB-C-Anschluss in 30 Minuten von 0 auf 50 Prozent laden lässt. Nach einer Stunde steht die Anzeige bei 77 Prozent und nach 90 Minuten bei 93 Prozent (alle Werte selbst gemessen). Ist der Akku fast leer, reichen wenige Minuten am Kabel, um genug Strom für ein paar Stunden zu tanken. Das ist ungemein praktisch.

Wer ein Smartphone sucht, das kabelloses Laden unterstützt, darf ebenfalls mit dem Nokia 9 liebäugeln. Es lädt induktiv immerhin mit 10 W, also ziemlich flott.

Ist es auch schnell?

Das Nokia 9 mit Android 9 hat einen Dark Mode, allerdings erscheint das Betriebssystem (noch) nicht durchgängig in dunkler Optik.
Das Nokia 9 mit Android 9 hat einen Dark Mode, allerdings erscheint das Betriebssystem (noch) nicht durchgängig in dunkler Optik.bild: watson

Im Alltag ist das rund 650 Franken teure Smartphone eine Rakete und spielt in Sachen Geschwindigkeit in einer Liga mit den Top-Modellen von Apple, Samsung und Huawei. Das Nokia 9 läuft mit 6 GB Arbeitsspeicher butterweich und startet Apps schneller als das teurere Galaxy S10 von Samsung, das gar 8 GB RAM nutzt. Dies ist bemerkenswert, da Nokia Qualcomms Top-Prozessor von 2018 nutzt (Snapdragon 845), während Samsung seinen neusten Prozessor im Einsatz hat, der im Alltag keinen spürbaren Geschwindigkeitsvorteil bietet.

Im Vergleich zu Huaweis brandneuem P30 Pro, das über 300 Franken mehr kostet, ist das Nokia 9 einen Tick langsamer, im Alltag wird man dies aber kaum je bemerken. Um es ganz deutlich zu sagen: Es gibt kein Handy-Spiel, das das Nokia 9 in die Knie zwingen könnte und der Prozessor wird auch in den nächsten drei Jahren genug schnell sein.

Bleibt eine Frage: Braucht es diese Leistung überhaupt? Jein. Mit dem schnellen Snapdragon 845 ist das Nokia 9 für normale Apps wie WhatsApp, watson etc. massiv übermotorisiert. Das Handy braucht die Rechenleistung aber für die Fünffach-Kamera, die bei jedem Foto gewaltige Bilddaten von fünf Linsen zusammensetzen muss. Das liesse sich mit noch mehr Power und RAM zwar leicht beschleunigen, dann würde das Nokia 9 aber nicht 650, sondern eher 1000 Franken kosten.

Warum das Nokia 9 keinen Snapdragon 855 hat
Wer sich fragt, warum Nokia nicht den allerneusten Prozessor Snapdragon 855 nutzt, sondern das Vorjahresmodell 845, bekommt von den Finnen eine klare Antwort: Die Entwickler bei Nokia und Zeiss haben viel Zeit investiert, um den rechenintensiven Bildverarbeitungsprozess der Fünffach-Kamera so zu optimieren, dass er einigermassen flott und akkuschonend ist. Offenbar kam der Snapdragon 855 Ende 2018 zu spät, um die für den neuen Chip notwendigen Anpassungen in nützlicher Frist hinzubekommen. Zudem wäre es illusorisch zu glauben, dass die Kamera mit dem aktuellen Prozessor plötzlich eine Rakete wäre. Dafür wären nicht rund 40 Prozent Leistungssteigerung notwendig, sondern wohl mehrere 100 Prozent.

Was taugt das Betriebssystem?

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bild: watson

Nokia setzt seit dem Comeback von Anfang 2017 konsequent auf Googles Original-Android – auch als Stock Android oder pures Android bekannt – und das Nokia 9 macht keine Ausnahme. Abgesehen von der Kamera-App wurde keine System-App modifiziert oder zusätzlich installiert.

Man hat also nicht zwei vorinstallierte E-Mail-Apps, zwei Foto-Apps oder zwei Internet-Browser, wie es bei den allermeisten Android-Herstellern üblich ist. Bei Nokia gibt es keine Bloatware, sprich überflüssige Apps.

Das Nokia 9 hat zudem die geschmeidigste Benutzeroberfläche, die ein Android-Smartphone bieten kann und wird so bedient, wie es von Google für Android 9 vorgesehen ist. Ein kurzer Wisch von unten zeigt die geöffneten Apps, ein langer Wisch alle Apps.

Ich habe in den letzten Monaten Handys von Huawei, Samsung und Xiaomi getestet und die Nokia-Bedienung gefällt mir klar am besten. Wer von einer anderen Marke (zurück) zu Nokia wechselt, muss sich aber auf eine kurze Umgewöhnungszeit einstellen.

Gibt es regelmässig Updates?

Wie alle neuen Nokia-Geräte schmückt auch das Nokia 9 Googles AndroidOne-Logo. Der Geräte-Hersteller verpflichtet sich damit, künftig das Update auf Android 10 und 11 anzubieten und während mindestens drei Jahren Sicherheits-Updates zu liefern. Zwar haben Samsung und Huawei bei den Updates zuletzt stark aufgeholt, aber regelmässige Updates bleiben ein Markenzeichen von Nokia.

Wie sieht es mit den Anschlüssen aus?

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bild: watson

Auf der Oberseite befindet sich der Dual-SIM-Einschub. Aus unerfindlichen Gründen fehlt der Steckplatz für microSD-Karten. Nokia meint, dies sei kein Problem, da man seine Fotos gratis in der Google-Cloud speichern könne. Ich denke, für viele Käufer ist dies sehr wohl ein Problem. Wer Fotos im unkomprimierten RAW-Format schiesst und ein paar Videos in 4K-Auflösung dreht, hat den internen 128-GB-Speicher schneller voll, als ihm/ihr lieb ist.

Nokia 9
Bild: watson

Auf der Unterseite befinden sich der schnelle USB-C-Anschluss sowie der laute, durchschnittlich klingende Mono-Lautsprecher. Was einige schmerzlich vermissen werden, ist der Klinkenanschluss. Kopfhörer müssen also per mitgeliefertem USB-C-Adapter oder via Bluetooth verbunden werden. Die Kopfhörer zum Nokia 9 bieten mit den besten Sound, den ich bei mitgelieferten Kopfhörern je auf den Ohren hatte. Dass man dafür wie bei Apple und Huawei den mitgelieferten Adapter braucht, hinterlässt einen faden Beigeschmack.

Nokia will offenbar seine kabellosen Earbuds verkaufen (kosten gut 100 Franken) und streicht nun ebenfalls die Kopfhörerbuchse.
Nokia will offenbar seine kabellosen Earbuds verkaufen (kosten gut 100 Franken) und streicht nun ebenfalls die Kopfhörerbuchse.bild: watson

Fingerabdruck-Scanner im Display? Funktioniert das?

Die unterirdische Qualität des In-Screen-Fingerabdruck-Scanners in einem Gif gezeigt.

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Der Fingerabdruck-Scanner im bzw. unter dem Display reagiert (theoretisch) auf leichten Druck. Er wird sichtbar, sobald man auf das Display tippt oder den On-Button drückt.gif: watson

Huawei, Samsung und wenige andere haben den In-Screen-Fingerabdrucksensor bereits, da wollte Nokia offenbar nicht abseitsstehen. Eine dumme Idee, wie sich nun zeigt. Bereits beim Test des Huawei Mate 20 Pro hatte ich den trägen In-Screen-Scanner kritisiert, beim neuen Galaxy S10, das ich aktuell nutze, ist die Technologie ebenfalls nicht zu 100 Prozent ausgereift, aber schon spürbar besser. Richtig übel ist es hingegen beim Nokia 9.

Bereits beim Einrichten wurde mein Fingerabdruck zig mal nicht erkannt – und im Alltag ist es kein bisschen besser. Ich habe mir darauf ein zweites Testgerät besorgt – mit dem gleichen Ergebnis. Besonders kurios: Oftmals erscheint beim Versuch einen Finger zu scannen die PIN-Tastatur, was zu mehreren versehentlichen Eingaben der Zahl Fünf führt.

Seit einem Update vor rund zwei Wochen funktioniert das Entsperren minim zuverlässiger, dafür wurde die Sicherheits-Funktion des Scanners fast vollständig ausser Kraft gesetzt oder zumindest massiv verschlechtert. Nun kann ich das Gerät mit Fingern entsperren, die ich gar nicht registriert habe. Viel schlimmer noch: Beliebige Menschen können mit ihren eigenen Fingern mein Testgerät entsperren, wie ich in diesem Artikel beschrieben habe.

Zum Glück lässt sich das Handy auch per Gesichtsscan entsperren. Der 2D-Scanner ist zwar nicht der schnellste, funktioniert aber soweit zufriedenstellend. Schade ist, dass Nokia auf einen 3D-Scan verzichtet, der eine weit höhere Sicherheit bieten würde.

Das Fazit

Nokia 9
Das Handy kommt mit einem Schnellladegerät, bequemen und gut klingenden Kopfhörern sowie dem notwendigen Adapter, da die Kopfhörer via USB-C angeschlossen werden müssen.Bild: watson
Das Nokia 9 ist der Beweis: Nokia ist (noch) nicht bereit, den Smartphone-Thron zurückzuerobern.

Positiv gesagt: Nokia-Fans, die einfach ein schönes, schnelles und hochwertiges Handy mit einer soliden Kamera suchen und auf Schnickschnack wie den In-Display-Fingerabdrucksensor verzichten können, bekommen ein gutes Smartphone zu einem fairen Preis von aktuell etwa 650 Franken. Es würde zudem nicht erstaunen, wenn der Preis künftig rasch sinkt.

Negativ gesagt: Das Nokia 9 Pureview – so der offizielle Name – sollte ehrlicherweise Nokia 9 Beta heissen. So toll die Ansätze sind, so schwach ist teils die Ausführung. Der In-Display-Fingerabdrucksensor ist in jeder Hinsicht eine Katastrophe. Unzuverlässig, langsam und hochgradig unsicher.

Um es ganz deutlich zu sagen: Wer einfach Schnappschüsse knipsen möchte, ist beim Nokia 9 vermutlich an der falschen Adresse. Die technisch beeindruckende, aber frustrierend langsame Penta-Kamera lässt wohl nur die Herzen experimentierfreudiger Fotografen wirklich höher schlagen.

Zur Erinnerung: Die Kamera-App ist träge, die Bildverarbeitung dauert gefühlt Jahre und gute Fotos ohne jegliche Nachbearbeitung gelingen nur bei wirklich guten Lichtverhältnissen. Hier allerdings spielt die Fünffach-Kamera ihre volle Stärke aus und ermöglicht realistischere und teils deutlich kontrastreichere Aufnahmen als die Konkurrenz (siehe Diashow bei Punkt 2). Wer zudem mit Ultraweitwinkel-Fotos nichts anfangen kann, aber Bokeh- und Monochrom-Aufnahmen liebt, darf zugreifen. Kein mir bekanntes Smartphone kann in diesen beiden Kategorien dem Nokia 9 das Wasser reichen.

Bei wenig Licht hingegen lässt die Bildqualität rasch nach, der Zoom ist allenfalls mässig und in der Nacht hat das Nokia 9 keinen Stich gegen die teureren Top-Smartphones von Huawei, Google oder Samsung. Otto Normalverbraucher sind insbesondere bei Huaweis Rundum-Sorglos-Kamera im P20, P30 oder Mate 20 deutlich besser aufgehoben.

Die erste Generation von Nokias Penta-Kamera bleibt klar hinter den Erwartungen zurück. Man muss den Finnen trotzdem ein Kränzchen winden, dass sie nicht einfach die Konkurrenz kopieren, sondern mit dem einzigartigen, simultan auslösenden Kamera-System ihren eigenen Weg in der Smartphone-Fotographie beschreiten, der früher oder später Erfolg haben könnte.

Pro und Kontra Nokia 9

+ innovative Kamera für experimentierfreudige Fotografen
+ sehr gute Performance
+ schnelle Updates wahrscheinlich (Original-Android mit AndroidOne-Zertifikat)
+ Design und Verarbeitung top
+ gutes OLED-Display
+ USB-C mit Schnelllade-Funktion
+ kabelloses Laden (Qi Wireless)
+ wasserfest (IP67)
+ Dual-SIM
+ Entsperren per Gesichtserkennung
+ fairer Preis
- mässige Schnappschuss-Kamera
- Kamera-App träge
- Bildverarbeitung viel zu langsam
- Rückseite sehr rutschig
- Speicher nicht erweiterbar
- Fingerabdruckscanner wertlos
- kein Kopfhöreranschluss (Adapter oder Bluetooth-Kopfhörer notwendig)
Bild
bild: watson

Das Nokia 9 in Zahlen

  • Display: 5,99-Zoll-OLED-Screen mit 1440 x 2880 Pixel (2K), 18:9-Format; 538 ppi und Gorillaglas 5
  • Abmessungen: 155 x 75 x 8,0 mm
  • Gewicht: 172 g
  • Farbe: Dunkelblau
  • Speicherplatz: 128 GB (nicht erweiterbar)
  • RAM: 6 GB
  • Prozessor: Snapdragon 845; Octa-Core (4x2.8 GHz Kryo 385 Gold & 4x1.7 GHz Kryo 385 Silver); GPU: Adreno 630
  • 5-fach-Kamera: 5 x 12 MP, f/1.8, 28mm (2 Farb- und 3 Monochrom-Sensoren plus ToF-Sensor)
  • Frontkamera: 20 MP
  • Akku: 3320 mAh, fest verbaut;
  • Schnellladung: 18W-Schnellladefunktion mit Quick Charge 3.0 via USB-C 3.1; kabelloses Laden mit 10W (Qi)
  • Fingerabdruck-Sensor: Ja, im Display
  • Gesichtserkennung: Ja, 2D-Scan
  • Kopfhörer-Buchse: Nein
  • Funkverbindungen: LTE Cat 16 4x4 MIMO, WLAN 802.11 a/b/g/n/ac; Bluetooth 5.0, NFC
  • Single-SIM oder Dual-SIM
  • Wasserfest IP67
  • Betriebssystem: Original-Android 9 Pie
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Hinweis: Das Testgerät wurde uns für die Dauer des Tests von HMD Global zur Verfügung gestellt.

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Warum das unterschätzte Nokia 8 ein echter Geheimtipp ist
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Warum das unterschätzte Nokia 8 ein echter Geheimtipp ist
Das ist es also: Das Nokia 8 von HMD. Ich konnte es die letzten Wochen ausgiebig testen.
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Huaweis Falt-Smartphone Mate X kostet 2500 Franken
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28 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sandro Lightwood
01.05.2019 16:28registriert Mai 2016
Obwohl verschrien, fangen nun weiter Hersteller an, den Klinkenanschluss zu entfernen.
804
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Schaaggi
01.05.2019 16:14registriert Oktober 2017
Bei "Rückseite aus Glas" habe ich aufgehört zu lesen.

Gibt es noch dümmere Materialien mit denen man das toppen könnte? Z.B. aus gefärbtem Zucker?
9428
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What’s Up, Doc?
01.05.2019 18:09registriert Dezember 2015
Nokia ist bei mir nur schon wegen dem Stock-Android auf dem Radar. Sollte mein Pixel 2 XL mal den Geist aufgeben kommt wieder nur ein pures Android in Frage und damit auch die FinnEsen.
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