Es regnet. Natürlich tut es das, denn wir befinden uns tief im Cyberpunk-Genre, wo schlechtes Wetter zum guten Ton gehört. Rauchend und trinkend blicken wir in die Häuserschluchten hinab und schauen dem futuristischen Treiben dieses Stahl-Molochs zu.
Fliegende Autos im Stil der 30er-Jahre, dahingleitende Zeppeline, Scheinwerfer am Nachthimmel, Reklamen in Neonfarben, riesige Hologramme und ein Wirrwarr an Kabel nehmen unser Sichtfeld ein. Das Jahr 2329 ist trist. Auch wenn Unsterblichkeit mittlerweile zum Alltag gehört, indem man sich immer wieder einen neuen Körper aussuchen und sein Bewusstsein transferieren darf, scheint pure Menschlichkeit unbedeutend geworden zu sein. Strenge Klassenunterschiede, Reich und Arm im ständigen Twist und eine schwere Lethargie ziehen die Stimmung weiter nach unten.
Inmitten dieser wenig berauschenden Gesellschaft begleiten wir Detektiv James Karra, der schon einige Körper gewechselt hat und mit vielen physischen als auch psychischen Problemen der Vorbesitzer kämpfen muss. Visionen von seiner verstorbenen Frau lassen seine Seele zusätzlich brennen. Medikamente und Alkohol lindern seine Schmerzen kurzfristig. Auch virtuelle Sitzungen bei seiner Therapeutin machen die Pein nicht wirklich erträglicher.
James leidet, murmelt und stänkert in bester Genre-Manier herum und geht schleppend seinem Job nach, um nicht komplett verrückt zu werden. Von seinem Vorgesetzten bekommt er die junge Polizistin Sara Kai an die Seite gestellt, respektive in sein Ohr versetzt. Denn James bewegt sich in der Ego-Ansicht alleine durch die düstere Welt und tauscht sich nur via Kommunikator mit seinem Sidekick aus.
Als er sich an einem Tatort einfindet und den Tod eines Elite-New-Yorkers untersucht, stellt er Schritt für Schritt fest, dass er hier einer gewaltigen Verschwörung auf die Schliche gekommen ist und ein Killer im Hintergrund sein perfides Spiel mit ihm treibt.
James kann mit der Hilfe modernster und ziemlich abgefahrener Technologie die Zeit kurzfristig manipulieren und diese an Ort und Stelle zurückdrehen und wieder nach vorne spulen. So steht er denn sinnierend am Tatort und sucht nach Hinweisen.
Hat er die richtigen gefunden, versetzt er sich mit der Technik am Handgelenk in eine Zeitblase, in der er noch mehr Hinweise findet. Schritt für Schritt tastet sich der Detektiv damit vorwärts, bis er einen bestimmten Zeitabschnitt komplett rekonstruiert hat und endlich den wahren Durchblick der Szenerie erhält.
Das hört sich alles etwas kompliziert an und ist es vorerst auch. Vor allem der erste Durchgang, das Sich-Vertraut-Machen mit der Mechanik, braucht Nerven und Hingabe. Auf der Haben-Seite: Die Technik wird dann erstaunlicherweise schnell kapiert, so dass man im nächsten Abschnitt eine Menge Spass damit hat und alles ordentlich flutscht.
Zusätzlich greifen wir regelmässig auf unsere Detektiv-Ausrüstung zurück: Mit einer Kamera, einem Röntgengerät oder via UV-Lampe entdecken wir weitere Spuren, um so die Situation neu einzuordnen und neue Schlüsse zu ziehen.
Nach Levelabschluss werden schliesslich alle Hinweise auf einem schachbrettartigen Boden ausgebreitet, um sie miteinander zu kombinieren und neue Schlussfolgerungen zu ziehen. Dieser Spielabschnitt artet zwar in einem ziemlich fummeligen Nebenquest aus, dauert zum Glück aber nicht ewig und die Story kann schnell weitergehen.
Dank der Grafikpower der Unreal Engine 5 ist «Nobody Wants to Die» ein optischer Hingucker geworden. Beeindruckende, ziemlich realistische Lichtverhältnisse und Umgebungsschatten lassen den Grafik-Fetischisten vor Freude tanzen. Auch wenn vereinzelt bei den Gesichtsanimationen noch Luft nach oben ist, kann sich dieser interaktive Krimi jederzeit sehen lassen und zeigt eindrücklich, zu was die Next-Gen-Technik in der Lage ist.
Auch wenn sich der Titel inhaltlich und optisch bei Genre-Kollegen wie «Cyberpunk 2077» bedient und bei Filmklassikern wie «Blade Runner» zugreift: Um das Worldbuilding zu festigen, wird im Verlaufe der Spielzeit dennoch eine Eigenständigkeit aufgebaut, die uns immer tiefer in dieses düstere New York eintauchen lässt.
Obwohl wir stets an der Hand genommen werden und uns viel freier in den Settings bewegen möchten, sind wir dem Spiel nie böse. Denn das Gezeigte liefert genügend Objekte und Fakten, um sich damit eindringlich zu beschäftigen und alles aufzusaugen. Zum innigen Retro-Future-Flair, wo sich Art déco und flimmernde Röhrenbildschirme stets die Hand geben, dürfen wir einem passenden Soundtrack lauschen, der uns gezielt ins Film-Noir-Genre drückt.
Während unseren Ermittlungen müssen wir immer wieder einige Entscheidungen treffen: Welche Antworten wollen wir im Dialog geben? Behalten wir bestimmte Objekte bei uns? Für welche gesellschaftliche Seite entscheiden wir uns und in welche Richtung pendelt unsere Beziehung mit der Polizistin Sara?
Unsere Entscheidungen haben Konsequenzen auf das Spiel-Ende. Der Weg dorthin unterscheidet sich zwar nicht gross und wahnsinnige Storytwists müssen dann doch draussen bleiben. Aber der Krimi besitzt durchaus einen Wiederspielwert, der sich lohnt, um die kleinen aber feinen Unterschiede zu entdecken.
Vor allem die am Schluss hinterlassenen Sprachnachrichten einer bestimmten Figur geben der Geschichte eine zusätzliche kernige Substanz. Da ein Durchgang nur etwa sechs Stunden benötigt, darf man sich weitere Runden also durchaus gönnen.
Fazit: Critical Hit Games aus Polen hat mit «Nobody Wants to Die» einen kurzweiligen und optisch beeindruckenden Cyberpunk-Thriller mit grossartiger Sozialkritik geschaffen, die stets beissend mitschwebt.
Auch wenn sich der interaktive Krimi bei Genre-Kollegen bedient, schafft er dennoch eine Eigenständigkeit, die vom Anfang bis zum Schluss fesselt. Ja, die Spielmechanik wiederholt sich und bietet wenig Neues, doch die Geschichte und die Figuren mit ihren Irrungen und Wirrungen lassen einen dafür nicht mehr los. Besonders die Beziehung zwischen James und Sara geht unter die Haut.
Die kaputte Gesellschaft dieser alternativen Zukunftsversion und die darin präsentierten Auswirkungen auf das Menschsein faszinieren zusätzlich und das Schicksal dieser düsteren Welt möchte bis zum bitteren Ende begleitet werden. Und wie es sich für das Genre gehört, sitzen wir nach dem Abspann einfach nur da und sinnieren über das Geschehene, unsere Welt und das eigene Ich.
«Nobody Wants to Die» ist erhältlich für Playstation 5, Xbox Series X/S und PC. Freigegeben ab 18 Jahren.