Wie ich genau auf diesen einen Felsvorsprung an der Meeresküste gelangte, weiss ich nicht mehr. Jedoch steht nun vor mir ein stolzer Samurai-Krieger, von dem ich eine neue Schwerttechnik erlernen möchte. Der Kampf beginnt, es wird blutig und zäh. Nach taktischen Ausweichschritten, geduldigem Parieren und schnellen Stössen fällt der Hüne endlich zu Boden und ich bin eine Erfahrung reicher.
Diese Minimission kostete mich zwar ein paar Spielstunden, aber hätte ich nicht per Zufall in einem kleinen Fischerdorf halt gemacht und mich mit den Bewohnern unterhalten, hätte ich nach langer Suche und Verfolgungsjagd eine wichtige Kampftechnik verpasst, die mir im Verlaufe des Spiels mehrmals das Leben rettete. Auf dem Rücken meines Pferdes setze ich nun meine Reise fort. Es gibt noch sehr viel zu tun ...
In der Rolle des Samurais Jin Sakai erkundige ich die Insel Tsushima, die jüngst vom Mongolischen Reich gegen Ende des 13. Jahrhunderts brutal eingenommen wurde. Als Teil eines Klans stellte ich mich der Überzahl und wollte die Invasion verhindern. Doch fast alle Samurai-Krieger fielen und als grosse Schmach wurde auch noch Jins Onkel vom mongolischen General Khotun Khan entführt und hinter Gitter gebracht.
Die Insel vor Japan ist nun fest in mongolischer Hand. Doch als überlebender Samurai erhebe ich mich und will mit eiserner Entschlossenheit mein Volk von der Unterdrückung befreien und die Familien-Ehre wiederherstellen. Alleine gegen eine riesige Armee hat aber auch der tapferste Samurai keine Chance. Das weiss auch Jin und versucht nun, weitere Überlebende und Mitstreiter auf der Insel zu finden, um die Mongolen zu vertreiben. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er aber auch mit Traditionen brechen und sich Kampfmechaniken aneignen, die seinem Onkel so gar nicht gefallen werden.
Was nach einer einfachen Befreiungs- und Rachegeschichte riecht, entpuppt sich im weiteren Spielverlauf aber als viel mehr als nur simple Videospiel-Arbeit. Durchaus darf man von Hauptmission zu Hauptmission rennen und die üblichen Aufgaben wie Geisel befreien, Schurke verfolgen oder feindliches Lager vernichten, lösen, um dann den Abspann zu betrachten. Doch der wahre Spielgeist von «Ghost of Tsushima» wird erst abseits der üblichen Routen spürbar.
Das Besondere: Die vielen kleinen Aufgaben und Nebenmissionen sind auf den ersten Blick nicht sichtbar. Die Karte bleibt vorwiegend leer und zeigt nur die wichtigsten Punkte an, die bereist werden sollen, wenn die Hauptgeschichte erlebt werden will. Die Spielenden müssen sich hier selber einen Ruck geben und blind auf Entdeckungstour gehen. Das Schöne: Ganz wie bei «The Legend of Zelda: Breath of the Wild» wird man für seine Suche, seine Neugier stets belohnt. Immer wenn etwas in der Ferne entdeckt wird oder die Intuition zu etwas hinführt, wartet dort auch etwas oder jemand auf die Spielenden.
Abseits dieser wunderschönen, belohnenden Freiheit versteckt sich natürlich auch die bekannte Linearität, die von A nach B führt und verlangt, dass viel eingesammelt wird und Erfahrungspunkte gehortet werden, um den Krieger stärker zu machen und sein Waffenarsenal zu verbessern. Aber auch diese Komponenten geschehen ohne Druck und ohne Stress.
Aufdringlich blinkende Icons sucht man vergebens, die Hinweise sind subtiler. Ja sogar das Spielmenü wirkt trotz seiner Komplexität dann doch wieder unkompliziert und überschaubar. Der aktive Spielbildschirm hat kaum ablenkende Objekte, keine Minikarte, keine unnötigen Hinweise. Für verwöhnte Spielerinnen und Spieler natürlich ein Graus, für andere eine Offenbarung und willkommene Abwechslung vom permanenten Open-Word-Stress.
Braucht es dann doch mal eine gewisse Orientierung, eilt der Wind herbei: Mit einem Touchpad-Wisch wird der Geist des verstorbenen Vaters aktiviert, der in der Form von Windböen über die Insel streift. Wohin dann der Wind durch die Landschaft gleitet, ist auch das nächste grosse Missionsziel zu finden.
In den Einstellungen darf man so einiges vollziehen, um durch so gut wie nichts auf dem Spielbildschirm abgelenkt zu werden. Doch da gibt es noch mehr Möglichkeiten, um das Erlebnis zu personalisieren. Das Spiel kann auch mit einem Schwarzweiss-Filter konsumiert werden, um das Flair eines alten japanischen Samurai-Streifens komplett aufzusaugen. Tatsächlich wird man hier gefühlt direkt in einen alten Schinken des japanischen Kultregisseurs Akira Kurosawa versetzt. Zwar geht gerade in der Schwarzweiss-Variante viel von der Grafikpracht verloren, aber der besondere Reiz ist da.
Die Kämpfe in «Ghost of Tsushima» sind packend und fordernd. Zwar kann hier von einer Komplexität und Bissigkeit à la «Dark Souls» nicht gesprochen werden, aber mit wildem Tastengehämmere kommt man hier definitiv nicht weit. Meistens muss mit Taktik vorgegangen werden, um als letzter Überlebender von dannen zu ziehen.
Abwarten, parieren, ausweichen, zuschlagen, wieder geduldig warten und im richtigen Moment wieder ausholen. Der Tanz mit dem Samurai-Schwert spielt sich nicht nur wunderbar, sondern sieht auch wunderbar aus. Und es ist schlicht jedesmal ein herrliches Gefühl, wenn nach dem schweisstreibenden Kampf der Gegner dann endlich theatralisch zu Boden geht.
Und ganz wie in den filmischen Vorbildern darf auch bei bestimmten Spielabschnitten ein einzelner Gegner per Knopfdruck herausgefordert werden, bevor die ganze Horde heranstürmt. Wie bei einem Duell im Wilden Westen muss dann im richtigen Augenblick das Schwert gezogen werden um den Angreifer niederzustrecken. Daraus ergibt sich ein grosser Vorteil für den weiteren Kampfverlauf und die ballettartige Auseinandersetzung kann beginnen.
Im Verlaufe des Spiels lernt unser Samurai nebst der Schwertkunst noch viele andere Möglichkeiten kennen, um sich zur Wehr zu setzten. Mit Pfeil und Bogen, Kletterhaken oder diversen chemischen Wurfgeschossen kommt unser Held auch an sein Ziel. Zusätzlich erlernt Jin diverse Schwert-Kampfstile, die jederzeit gewechselt werden können. Und natürlich kann er auch seine Samurai-Optik etwas aufmotzen und kommt später sogar in den Genuss einer richtigen Samurai-Rüstung.
«Ghost of Tsushima» sieht jederzeit schlicht und einfach fantastisch aus. Immer wieder muss innegehalten werden, um diese sagenhaft wunderschönen Landschaftsbilder auf sich wirken zu lassen. Sonnenuntergänge sahen schon lange nicht mehr so berauschend aus und wenn die ersten Sonnenstrahlen das von Morgentau umgarnte hohe Gras streicheln, muss das einfach passiv aufgesogen werden.
Bunte Blätter, die aufgewirbelt werden, saftige Wälder, die zum Erkunden einladen oder plötzlich einsetzender Regen, den man förmlich riechen kann, die Macherinnen und Macher bei Sucker Punch dürfen sich selber auf die Schulter klopfen. Da verzeiht man auch die kleinen technischen Mängel, wenn etwa die KI der Gegner vor allem in den Schleichpassagen aussetzt oder Kontrahenten ab und zu einfach so durch Wände gehen.
Fazit: Eigentlich habe ich von Open-World-Spielen, den überwucherten Karten und dem nicht enden wollenden Content schon lange genug. «Ghost of Tsushima» hat mir aber gezeigt, dass dieses Genre, wenn es denn will, gar nicht so aufdringlich sein muss. Der jüngste Sucker Punch-Streich hat bewiesen, dass es eben doch auch anders geht. Auch wenn es auf der Insel viel zu erledigen und vor allem zu entdecken gibt, hat man als Spieler nie das Gefühl, dass es von mir auf Biegen und Brechen verlangt wird. Völlig stressfrei und lockerflockig gehe ich für mehr als dreissig Stunden auf Entdeckungstour und erlebe nebenbei eine simple, aber auch dramatische Rachegeschichte, die mir nicht nur die Samurai-Kultur näher bringt, sondern auch als interaktiver Geschichtsunterricht genutzt werden kann. Oben drauf gibt es eine fantastische Optik, die mich verzaubert und regelmässig innehalten lässt. So geht Open-World!
«Ghost of Tsushima» ist ab dem 17. Juli erhältlich für Playstation 4 und freigegeben ab 16 Jahren.