Ein nie enden wollender Sommer in den 90er-Jahren: Vier Highschool-Mädchen, die sich per Zufall begegnen, anfreunden und darauf einen Bund fürs Leben eingehen, weil sich die Ereignisse überschlagen, erleben vorerst eine wundervolle Zeit. Eine abgelegene Hütte im Wald, aufkeimende Verliebtheit an einem malerischen See und ein plötzlich eintretendes, übersinnliches Ereignis, das Einfluss auf die Zukunft-Ichs der vier Mädchen nimmt, fesseln an den Bildschirm und überschütten uns gleichzeitig mit einer grossen Portion Nostalgie.
Doch bevor es zu vielen Irrungen und Wirrungen kommt, die uns emotional tief berühren, beginnt die Videospiel-Geschichte im Jahr 2022: Wir dirigieren Swann durch eine alte, leicht siffige Kneipe in ihrem ehemaligen Heimatort. Sie ist nicht per Zufall in dieser Gegend, da sie sich mit ihren alten Freundinnen Nora, Autumn und Kat treffen möchte, die sie nun schon 27 Jahre lang nicht mehr gesehen hat.
Doch schnell wird klar, dass der Aufenthalt in diesem beschaulichen Städtchen Velvet Cove nicht ganz freiwillig geschieht. Ein Ereignis in der Vergangenheit zwingt alle an einen Tisch, um gemeinsam die Erinnerungen wieder wachzurütteln, die tief verborgen im Innern schlummern. Was genau ist damals eigentlich passiert und wie hat sich das Verhältnis zwischen den einzelnen Protagonistinnen verändert? Die Spurensuche beginnt.
Spieltechnisch wird dabei stets zwischen Momenten in der Gegenwart und in der Vergangenheit gewechselt. In der Vergangenheit erleben wir die Geschichte in der Rolle von Swann im Jahr 1995, die mit den üblichen Teenie-Problemen zu kämpfen hat. Wir begleiten sie von Szenerie zu Szenerie, erfüllen dabei die üblichen Aufgaben wie Gegenstände suchen und sie an bestimmten Stellen platzieren und vollziehen natürlich auch jede Menge Dialoge mit unseren neuen Freundinnen.
Wie es sich für ein solches Story-Game gehört, können wir unsere Antworten auswählen und die Beziehungen zu den einzelnen Mädchen steuern. Zwar resultieren daraus keine grossen Weggabelungen, die die Geschichte in eine komplett andere Richtung führen, aber immerhin lässt sich das Verhältnis mit einzelnen Menschen leicht verändern und beeinflussen. Auch das Thema Liebe nimmt dabei einen wichtigen Stellenwert ein und lässt uns mit den Gefühlen zwischen den einzelnen Figuren experimentieren.
Die junge Swann hat stets eine Videokamera bei sich, mit der wir jederzeit Aufnahmen machen können und in bestimmten Situationen auch müssen, damit die Geschichte weitergeht. Diese Aufgaben sind aber von sehr simpler und seichter Natur. Meistens wird von den Spielenden erwartet, dass sie in einer bestimmten Szene verschiedene Aufnahmen machen, damit es dann inhaltlich weitergeht.
Auch wenn die Benutzung des Camcorders in der Dramaturgie einen wichtigen Stellenwert einnehmen möchte, ist diese Mechanik in erster Linie nur eine sehr gelungene optische Spielerei, die dem Jahr 1995 noch mehr Substanz und Unschuld verleiht.
«Lost Records» braucht Geduld. Zum einen, weil die Geschichte zu Beginn einige Startschwierigkeiten hat, weil die seichte Spielmechanik auf die Bremse drückt und zum anderen, weil nach etwa sechs Stunden schon Schluss ist. Denn der zweite Teil dieses Teenie-Dramas wird erst Mitte April veröffentlicht. Das lässt uns am Ende des ersten Teils ratlos zurück und wirft Fragen in den Raum, auf deren Antworten wir nun warten müssen.
Das alles kann einen negativen Beigeschmack zurücklassen, nimmt doch die Geschichte erst kurz vor dem Cliffhanger-Schluss richtig an Fahrt auf. Sehr schade, aber da müssen wir nun durch und uns in Geduld üben. Wer damit leben kann, erfreut sich dennoch an der vorerst unschuldigen Geschichte, die uns immer tiefer hineinzieht und auf die Tränendrüse drückt.
Audiovisuell hat Dontnod hier wieder ordentlich abgeliefert. Der liebliche Soundtrack geht wieder direkt ins Ohr und überschüttet uns mit ganz vielen Nostalgie-Gefühlen. Wenn wir durch die liebevoll gestalteten Örtlichkeiten schlendern und haufenweise 90er-Jahre-Eastereggs entdecken, schreit unser 90er-Jahre-Ich vor Begeisterung und suhlt sich in der Atmosphäre, die vorzüglich mit unseren eigenen Gefühlen und Erinnerungen spielt.
Das Spiel schafft es mit seiner Optik und dem Klangteppich, dass Emotionen gekitzelt werden, die nur Kinder der 80er- und 90er-Jahre verstehen werden, als sich das Internet und soziale Medien noch nicht so intensiv in unseren Alltag schlichen. Zwar werden auch andere Generationen daran gefallen finden, wenn sie sich auf die Geschichte und die Figuren einlassen, doch die richtigen Knöpfe werden nur bei den älteren Hasen ordentlich gedrückt.
Fazit: Dass nach rund sechs Stunden schon vorerst Schluss ist, sprich der erste Teil uns mit ganz vielen Fragezeichen zurücklässt, ist ehrlich gesagt sauhart. Gerade als die Geschichte richtig spannend wird und ordentlich auf die Dramaturgie-Tube drückt, fällt der Vorhang und wir werden grummelig zurückgelassen. Gut, zwei Monate Wartezeit ist machbar, doch ob man sich das wirklich antun möchte und nicht lieber warten sollte, bis das Spiel in einem Ruck durchspielbar ist, muss individuell entschieden werden.
Der erste Teil überzeugt aber mit wunderschönen Charakteren, die einem ans Herz wachsen, vielen dramatischen Momenten, die man nicht vergessen wird und einer grossen Portion Mysterie, die an viele Filme und Serien der Populärkultur zurückerinnert. Der Soundtrack ist wieder eine Wucht, die Nostalgie ist permanent anwesend und man kann sich der einlullenden Atmosphäre gar nicht mehr entziehen.
Über alldem schwebt jedoch der kommende zweite Teil, der uns ganz viele Fragen beantworten und uns nach dem Aufbau dieser vielen Grundpfeiler auch ordentlich durchschütteln muss. Die Erwartungen an den Schlussakt sind hoch. Sehr hoch.
«Lost Records: Bloom & Rage» (Teil 1) ist erhältlich für Playstation 5, Xbox Series X/S und PC. Freigegeben ab 16 Jahren.