
Im Angebot für Elektrosensible: Jeans mit Strahlenschutz-Innentasche. bild: wavesafe.ch
Im Kanton Aargau ist ein höchst ungewöhnliches Verkaufsgeschäft eröffnet worden. Das Angebot umfasst Textilien für Jung und Alt, die gegen Mobilfunk- und WLAN-Strahlung abschirmen sollen.
02.07.2019, 09:2202.07.2019, 19:52
Was ist passiert?
In Wettingen AG ist am Samstag das angeblich «weltweit erste» Verkaufsgeschäft für Schutzkleidung gegen elektromagnetische Strahlung eröffnet worden. Das Angebot von Wavesafe umfasst Kleider, Moskitonetze und andere Textilien, die vor Handy- und WLAN-Strahlung abschirmen.

Aussenansicht des neu eröffneten Ladens an der Bahnhofstrasse in Wettingen.bild: zvg
Was wird verkauft?
Das Sortiment umfasst:
- Kleider, Hosen und Unterwäsche
- Baby- und Kinderbekleidung
- Kopfbedeckung (Mützen)
- Baldachine – eine Art Moskitonetz, mit der man angeblich den Schlafplatz vor Strahlung schützen kann.
- Duvet- und Matratzenüberzüge.
- Handystrahlenschutz-Taschen
- Messgeräte für hochfrequente elektromagnetische Strahlung.
- «Geschirmte» Elektroartikel – das sind zum Beispiel spezielle Steckdosenleisten und Adapter.

Dieses Netz schützt laut Anbieter nicht nur vor Strahlung, sondern auch vor Stechmücken.bild: zvg
Die Wirksamkeit ihrer Produkte sei durch eine unabhängige Prüfstelle zertifiziert worden, versichern die Wavesafe-Betreiber (siehe unten).

Diese Unterhose ist auch ein faradayscher Käfig und schirmt angeblich vor elektromagnetischer Strahlung ab.bild: wavesafe.ch
Von wem kommen die Produkte?
Zum Teil seien die Stoffe (z.B. die Marke «Swiss Shield») zugekauft, zum Teil würden die Kleider mit Biobaumwolle selbst produziert. Alle Artikel seien in kleinen Familienbetrieben in Bulgarien und der Türkei hergestellt worden, schreiben die Verantwortlichen in der Medienmitteilung.
Wie funktioniert das?
In die Stoffe werden dünne Metallstrukturen verwoben, die einen abschirmenden Effekt erzielen sollen.
«Das spezielle Silbergestrick wirkt wie ein faradayscher Käfig und schützt wirksam.»
Versprechen des Anbieters
Alle Textilien seien von der Universität der Bundeswehr in München auf ihre Schirmwirkung getestet und zertifiziert worden (basierend auf der Reflektion der Strahlen). Der Schutz betrage je nach Stoff bis zu 99.8% bei 5G und WLAN.

bild: zvg
watson hat bei den Verantwortlichen nachgefragt, wie sie die Wirksamkeit ihrer Produkte beweisen können.
Antwort:
«Mit einfachen Messgeräten – einmal ausserhalb des Stoffs, dann gemessen unter dem Baldachin oder unter dem angezogenen Kleidungsstück. Vor allem sind die Testberichte auch aussagekräftig.»
Die Verantwortlichen legen Schreiben eines Wissenschaftlers der Universität München der Bundeswehr vor. Sie stammen vom Ingenieur Peter Pauli, Leiter des Instituts für Hochfrequenztechnik und Nachrichtenübertragungstechnik. Er attestiert einzelnen Produkten eine starke Dämpfung.
Wer sind die Ladenbetreiber?
Ronald und Ruth Widmer aus Ehrendingen.

Ruth und Ronald Widmer.bild: zvg
Die 64-jährige Aargauerin und ihr 62-jähriger Mann sind laut eigenen Schilderungen persönlich betroffen:
«Mit Schutzbekleidungen, einem Baldachin für den Schlafplatz und Verkabelung des Internets kann Ruth nun wieder ein beschwerdefreies Leben führen. Sobald sie aber ungeschützt nach draussen geht oder sich an Orten mit starker Strahlung aufhält, kriegt sie Kopfschmerzen, spürt nachts einen Druck auf der Brust und fühlt sich völlig überdreht, was zu Erschöpfungszuständen führt.»
Ist das Hokuspokus?
Was für die breite Masse der Bevölkerung übertrieben klingen mag, ist für eine Minderheit eine Qual.
Sicher ist: Es gibt Menschen, die in Zusammenhang mit elektromagnetischer Strahlung höchst empfindlich reagieren und gesundheitliche Symptome aufweisen.
Im Englischen wird das als Electromagnetic Hypersensitivity (EHS) bezeichnet. Wobei es noch viele ungeklärte Fragen gibt (siehe Infobox unten).
In der Schweiz bestehen mehrere Selbsthilfegruppen.
Durch die Kult-TV-Serie «Better Call Saul» erfuhr ein relativ grosses Publikum von dem Phänomen.
Keine anerkannte Krankheit
Elektrosensibilität ist hierzulande keine anerkannte Krankheit, in Schweden schon seit einigen Jahren.
Elektrohypersensible Menschen reagieren empfindlich auf elektromagnetische Strahlen, sie leiden deshalb unter einer Reihe gesundheitlicher Beschwerden, wie das «St.Galler Tagblatt»
2018 berichtete. Der sogenannte Elektrosmog werde etwa von WLAN-Netzen, Mobilfunkantennen, Handys oder Stromleitungen verursacht.
In der Schweiz glaubten laut einer Studie fünf Prozent der Bevölkerung, dass der Elektrosmog sie gesundheitlich beeinträchtige. Unter Wissenschaftern sei umstritten, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dem Elektrosmog und den Symptomen der Betroffenen.
In Doppelblindstudien konnte
laut «Tages-Anzeiger» eine sogenannte Elektrosensibilität nicht nachgewiesen werden. Auch Langzeiteffekte wurden keine gefunden.
Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) wollte laut «St.Galler Tagblatt» einen kausalen Zusammenhang weder bestätigen noch ausschliessen. So seien elektrosensible Probanden bei Experimenten etwa nicht in der Lage gewesen, zuverlässig anzugeben, ob das elektromagnetische Feld gerade aktiviert oder abgeschaltet war.
Peter Kälin, der Präsident von
Ärzte für Umweltschutz (Aefu), bestätigte, dass ein konkretes Krankheitsbild fehle, es bestehe «riesiger Forschungsbedarf». Der Verband fordert von der Politik «eine konsequentere Anwendung des Vorsorgeprinzips, eine Senkung der Grenzwerte und unabhängig finanzierte kontinuierliche Forschung».
Wo ist bei Wavesafe das Problem?
Die Verantwortlichen neigen zu Übertreibungen und Dramatisierung der Problematik. In der am Montag verschickten Medienmitteilung zur Ladeneröffnung heisst es:
«Wirtschaftlich und wissenschaftlich unabhängige Studien belegen schon seit Jahrzehnten, dass Mobilfunkstrahlen gesundheitsschädigend sind, sogar wenn diese weit unter den gesetzlichen Grenzwerten liegen. Bereits über zehn Prozent der Bevölkerung ist elektrosensibel und leidet zum Teil schwer unter der ständigen Bestrahlung. Somit werden auch die Gesundheitskosten immer mehr steigen.»
Auf Nachfrage von watson, welche unabhängigen Studien gemeint seien, antwortet Ronald Widmer mit verschiedenen Links und einer PDF-Sammlung bei Dropbox. Darin geht es unter anderem um folgende Publikationen:
- «Biologische und pathologische Wirkungen der Strahlung von 2,45 GHz auf Zellen, Fruchtbarkeit, Gehirn und Verhalten» (Sonderbeilage zur Zeitschrift «Umwelt Medizin Gesellschaft» des Ökologischen Ärztebundes, einer privaten deutschen Organisation, erschienen 2018)
- «Land im Strahlenmeer»: 2017 erschienenes Buch der Schweizer Sachbuchautorin Ursula Niggli.
Einen Studien-Überblick zur Thematik gebe es hier auf der Website von emfdata.org, schreibt Widmer.
Auf der Firmen-Website ist auch die Rede davon, dass die Strahlung die Spermienqualität verschlechtere. Das klingt dann so:
«Wissenschaftliche Untersuchen belegen, dass die Mobilfunkstrahlen die Spermienqualität mindert. Um unsere Nachkommen zu schützen, haben wir Bio- und Swiss Shield Boxer Shorts im Angebot.»
Richtig ist: Bisher konnte keine wissenschaftliche Studie einen eindeutigen Beweis für den Zusammenhang von Handystrahlung und Spermienqualität nachweisen, wie watson-Wissensredaktor Daniel Huber kürzlich berichtete.
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