Schon wieder eine Corona-App, dabei hat die erste in der Bevölkerung mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen! Solche Reaktionen würden angesichts der heute verkündeten Lancierung der SwissCovid-Macher nicht verwunden. Dieser Beitrag erklärt, was es mit der geplanten App auf sich hat und warum sie im Kampf gegen Covid-19 viel bewirken kann.
Das ist eine neue Schweizer App, die derzeit entwickelt wird und als zusätzliches freiwilliges Hilfsmittel dazu dienen soll, Corona-Cluster einzudämmen. Oder anders ausgedrückt: Sie hilft gegen Superspreader. Hinter dem Projekt stehen die Macher der SwissCovid-App (siehe unten).
Gemäss Ankündigung vom Freitag soll NotifyMe in der zweiten November-Hälfte in den App-Stores von Apple (iPhone) und Google (Android) veröffentlicht werden.
Ziel ist es, die Besucher von öffentlichen und privaten Events möglichst effizient und gleichzeitig datenschutzkonform und anonym vor möglichen Ansteckungen zu warnen.
Die Verantwortlichen schreiben:
Nein, definitiv nicht. NotifyMe ist als Ergänzung gedacht. Und als ein zusätzliches freiwilliges Hilfsmittel konzipiert, um die Folgen sogenannter Corona-Cluster einzudämmen.
Hintergrund sind relativ neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Verbreitung von SARS-CoV-2: Demnach bringt die gezielte Eindämmung ganzer «Cluster» eine grössere Wirkung als das Aufspüren von einzelnen Infektionen.
Man weiss schon länger, dass die meisten Infizierten kaum jemanden anstecken. Aber: Einige Wenige können hochansteckend sein und in geeigneten Situationen als Superspreader sehr viele Menschen infizieren. In geschlossenen Räumen kann dies über grössere Distanzen passieren.
Nur 10 Prozent der #Corona-Infizierten sorgen für 80 Prozent aller Neuinfektionen. @C_Althaus, Epidemiologe an der #unibern @ISPMBern, erforscht #Superspreading und gibt in der Sendung «nano» Auskunft: https://t.co/Fs7JolrvQn#srf pic.twitter.com/nYQY9JQKzp
— Universität Bern (@unibern) November 13, 2020
Epidemiologen gehen davon aus, dass bei Sars-CoV-2 zwischen 10 und 20 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Infektionsfälle verantwortlich sind. Und diesem Umstand werden die bisherigen Corona-Warn-Apps mit ihren einfachen Blutooth-Abstandsschätzungen nicht gerecht.
Bei der SwissCovid-App müssen Geräte ja über einen gewissen Zeitraum (mindestens 15 Minuten) relativ nah bei einander sein, damit «Kontakte» registriert werden (ca. 1,5 Meter Distanz, gemessen durch die BLE-Signalstärke).
Bestehende Proximity-Tracing-Systeme wie SwissCovid oder andere Corona-Warn-Apps können demnach nur eine Teilmenge der Personen benachrichtigen, die gemeinsam an einem Ort waren: Weil sich aber auch weiter entfernte Besucher angesteckt haben könnten und es sich gar um einen Superspreader-Event handeln könnte, sollen alle gewarnt werden, die zu der fraglichen Zeit beisammen waren.
Die neue App wird von der Schweizer App-Entwicklerfirma Ubique AG und Wissenschaftlern der EPFL, der Eidgenössisch-Technischen Hochschule in Lausanne entwickelt.
Die Software basiert auf CrowdNotifier, einem Protokoll, das Mitglieder des DP3T-Konsortiums in gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit konzipiert haben. Das sind die Leute, die Anfang 2020 SwissCovid gemeinsam entwickelten und von verschiedenen Forschungseinrichtungen in der Schweiz und anderen europäischen Ländern stammen.
Im White Paper werden die EPFL-Wissenschaftler aufgeführt, die auch an SwissCovid massgeblich beteiligt waren:
Auch mit an Bord sind Dr. Michael Veale vom University College London sowie Professorin Seda Gürses von der Technischen Universität (TU) Delft, Niederlande.
Es gilt grundsätzlich zu unterscheiden zwischen dem Veranstalter und den Teilnehmern eines Events. Wobei ein solcher Event ein privater oder geschäftlicher Anlass sein kann.
Auf der NotifyMe-Website wird das Vorgehen seitens der Event-Teilnehmer (mit Smartphone) erklärt:
Für Veranstalter des Events, sei dies eine private Party, ein geschäftliches Treffen oder eine sonstige Versammlung, hält sich der organisatorische Aufwand in Grenzen:
Mathias Wellig, Geschäftsführer der Ubique AG:
Wie oben geschildert, wird für jede Veranstaltung eine «verschlüsselte ID» generiert, nach Bekanntwerden eines Corona-Falles kann diese ID zusammen mit der für das Infektionsrisiko relevanten Zeitspanne auf einem Server veröffentlicht werden. Die entsprechenden Daten sind für Dritte wertlos, sie erhalten keinerlei auswertbare Informationen.
Die auf den Smarphones installierte NotifyMe-App lädt regelmässig die Liste der veröffentlichten IDs herunter und prüft, ob es Übereinstimmungen mit den nur lokal auf dem Mobilgerät gespeicherten IDs und Zeitspannen gibt.
Die App setzt den Privacy-by-Design-Ansatz um. Das heisst, die Software ist so konzipiert, dass möglichst wenig Daten anfallen und nichts Auswertbares übermittelt wird.
Die NotifyMe-Nutzer müssen weder Name, Adresse oder Telefonnummer angeben. Es werden auch keine GPS-Standortdaten erfasst über die Smartphone-App.
Dabei gibt es grosse Parallelen zu SwissCovid, was das vorübergehende Speichern der «Kontaktdaten» betrifft. Die Liste der Check-Ins wird nur lokal auf dem Smartphone gespeichert und an keinen zentralen Server übermittelt. Und nach 14 Tagen werden die lokalen Daten wieder gelöscht.
Im White Paper halten die Wissenschaftler fest:
Gemäss dem wissenschaftlichen Konzept und der technischen Umsetzung handelt es sich um ein freiwilliges Hilfsmittel, ja. Dazu stellen sich ein paar grundlegende Fragen.
Bei SwissCovid ist die absolute Freiwilligkeit gesetzlich vorgeschrieben. Niemand darf wegen Nutzung oder Nichtnutzung der App diskriminiert oder bevorzugt werden.
Lokalbetreiber könnten nun aber die Registrierung über die NotifyMe-App (beim Eingang) verlangen. Besucher dürften dann nur eintreten, wenn sie sich registrieren.
Und auch bei Meetings und anderen unternehmensinternen Zusammenkünften könnten die Verantwortlichen auf die Idee kommen, NotifyMe zwingend zu verlangen.
Ja. Sowohl für den Endnutzer als auch für Veranstalter soll die Nutzung des Systems kostenlos sein.
Die NotifyMe-App ist als freiwilliges, zusätzliches Hilfsmittel gedacht, um Corona-Cluster zu bekämpfen.
Davon zu unterscheiden ist die gesetzlich vorgeschriebene Verpflichtung für Gastrobetreiber, die Kontaktdaten der Gäste schriftlich zu erfassen. Das ist etwas Anderes.
Veranstalter müssen (wie schon bisher üblich) die Gästelisten aufbewahren und wenn ein bestätigter Covid-19-Fall vorliegt, dem kantonalen Contact-Tracing-Team aushändigen.
Im Gegensatz zu den Listen erfordert die App einen geringen administrativen Aufwand und ist zudem anonym.
Grundsätzlich ja. Das würde Sinn machen.
Inwiefern die neue App mit SwissCovid zusammenspiele, sei zur Zeit noch unklar, teilt App-Entwicklerchef Mathias Wellig auf Anfrage von watson mit.
Wenn das genügend viele Schweizerinnen und Schweizer tun würden, ergäbe das die Möglichkeit, sehr früh Clusters zu identifizieren, wenn man beobachte, dass es mehrere Meldungen für den gleichen Ort zur gleichen Zeit gebe.
Der Bund als Herausgeber von SwissCovid müsste im Falle eines Zusammenspiels mit NotifyMe die nötigen Grundlagen schaffen und das System offiziell unterstützen, erklärt Wellig. «Bei einer offiziellen Unterstützung könnte auch die Selbstdeklaration der Veranstalter durch einen autorisierten Prozess im Gesundheitswesen ersetzt werden.»
Marco Stücheli vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) und betraut mit der Kommunikation zu SwissCovid, antwortet:
Ob der Bund in Sachen digitaler Pandemiebekämpfung weitere Fortschritte macht, ist also zurzeit noch offen.
Ja.
Die Anleitung für Android- und iPhone-User gibt's hier bei Github.com. Da es sich um eine Betaversion handelt, müssen iPhone-User zunächst die Testflight-App installieren, um am öffentlichen Betatest teilnehmen zu können. Android-User können direkt die Testversion herunterladen.
Ja. Zu 100 Prozent. Dies im Gegensatz zu SwissCovid, wo bekanntlich ein wichtiger Teil des Proximity-Tracing-Systems in die mobilen Betriebssysteme von Apple und Google integriert ist und der Code nicht komplett einsehbar ist.
NotifyMe kommt ohne die entsprechenden Schnittstellen für iOS und Android («Exposure Notification») aus.
Die Entwickler schreiben:
Ausserdem hoffe ich, dass viele Veranstalter von der Möglichkeit Gebrauch machen werden, die Registrierung obligatorisch zu machen. Denn nur so ist's wirklich effektiv.