Die Sommerferien gehen zu Ende, am Montag füllen sich in vielen Kantonen die Klassenzimmer wieder. Nicht alles ist gleich wie davor. So erwartet rund 1100 Schülerinnen und Schüler im Schulhaus Burghalde in Baden AG eine neue Regel. In den Gebäuden sind Smartphones verboten. «Die Anforderung, dass Jugendliche ihren Handykonsum selbstständig regulieren können, war zu hoch», begründet die Schulleitung die Kehrtwende in einem Schreiben an die Eltern.
Die Schulleitung informiert ungewöhnlich offen über ihre Meinungsverschiedenheiten. Man diskutiere seit vielen Jahren über eine sinnvolle Handyregelung: «Das führte zu zwei Abstimmungen im Team, die beide nahezu unentschieden ausgingen.» Jetzt aber ist die Stimmung gekippt, und eine restriktive Regelung – «unter Einbezug diverser Studien» – fand eine Mehrheit.
Nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch etwas viel Simpleres gab den Ausschlag: «Das Bild von Hunderten Schülerinnen und Schülern, die trotz alternativem Angebot während der grossen Morgenpause in der Mensa oder im Aussenraum an ihren Handys waren, gab Anlass zur Besorgnis.» Eine Lehrerin formuliert es unverblümter: «Der Anblick ist unerträglich geworden, alle starrten nur noch in ihre Geräte.»
Baden ist kein Einzelfall. Mehr und mehr Schulen führen Einschränkungen ein. Handyverbote waren bisher meist nur an Primarschulen üblich. Oberstufen wie die Sekundarschule Arbon TG, die ein Verbot seit vielen Jahren kennt, bildeten bislang die Ausnahme. Dort heisst es schon seit 2016 in der Schulordnung, die von Eltern und Schülern unterschrieben werden muss: «Ich verzichte auf das Benützen elektronischer Geräte aller Art (Handy etc.) auf allen Schulanlagen sowie im Schulbus.»
Neu sind die Regeln in Neuenhof AG. In der Schulordnung werden auch elektronische Uhren mit eingeschlossen: «Smartwatches müssen vor dem Betreten der Schulhäuser ausgeschaltet und nicht sichtbar verstaut werden.»
Radikale Verbote sind aber die Ausnahme. Oft wird ein Kompromiss gesucht. Einige Schulen, wie die Sekundarschule Muttenz BL, haben gute Erfahrungen damit gemacht, Geräte in der Mittagspause zuzulassen. Die dortige Hausordnung sagt: «Ich darf elektronische Geräte zwischen 12.15 und 13.15 Uhr nutzen.»
Ähnliche Regelungen setzen sich jetzt breitflächig durch. In Frick AG gilt ab Montag «ein generelles Handynutzungsverbot von 7.20 bis 11.40 sowie von 13.20 bis 16.50 Uhr». Demnächst soll ein Merkblatt mit Details an die Eltern verteilt werden. Diese seien ausserhalb der definierten Zeiten für die Handynutzung ihres Kindes verantwortlich, heisst es.
Es ist ein letztes Aufbäumen der Eigenverantwortung - doch die scheint, wenn es ums Handy geht, nicht mehr zu funktionieren.
Ein Umdenken hat eingesetzt. In Schulleitungen, in Elternräten und auch in der Politik. Verbote sind keine Frage mehr von links und rechts. In Solothurn ist es ein SVP-Kantonsrat, der es durchsetzen will, in Basel-Stadt eine grünliberale Politikerin, die ein Handyverbot auf Kantonsebene anregt: «Ist der Regierungsrat bereit, im Kanton Basel-Stadt eine smartphonefreie Volksschule einzuführen?», heisst es in einem Vorstoss von Grossrätin Sandra Bothe.
Die Kantonsparlamentarierin bezieht sich in ihren Ausführungen auf den amerikanischen Sozialpsychologen Jonathan Haidt. Vorbei die Zeiten, als Vorstösse in Parlamenten noch mit «störenden Klingeltönen» (Aargau, 2010) begründet wurden. Jetzt geht es nicht mehr um Lärm, sondern um das höchste Gut überhaupt: die Gesundheit der Kinder.
Jonathan Haidts Buch mit dem Titel «Generation Angst» ist ein weltweiter Bestseller. In pädagogischen Kreisen gilt es bereits als Pflichtlektüre – und Schulleitungen dient es als wissenschaftliche Grundlage dafür, Smartphones aus den Schulhäusern zu verbannen.
Haidt zeigt mit einer Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen aus Amerika und Europa auf, wie schlimm es um die Gesundheit und Entwicklung der Teenager steht, und er hält das Konzept der Eigenverantwortung für gescheitert. Haidt, selbst Vater, fordert: kein Smartphone bis zum 14. Geburtstag und keine sozialen Medien bis zum 16. Geburtstag. Das sind seine fünf wichtigsten Erkenntnisse:
1. Zunahme von Angst und Depression: Über viele Jahrzehnte war der Anteil Jugendlicher (12- bis 17-Jähriger), die von Angstzuständen berichten oder gar Depressionen haben, stabil. Das änderte sich ab 2010 (siehe Grafik). Die Zunahme ist enorm, vor allem bei den Mädchen. Gaben 2010 noch 12 Prozent an, in den vergangenen zwölf Monaten eine Depression erlitten zu haben, waren es 2020 bereits horrende 30 Prozent. Haidt sieht als Hauptgrund das Aufkommen der Smartphones just in dieser Phase.
2. Verlust an Schlaf: Die ständige Erreichbarkeit und Nutzung von Smartphones, insbesondere vor dem Schlafengehen, führt bei vielen Teenagern zu Schlafmangel. Dieser steigert das Risiko psychischer Erkrankungen. Besonders gefährdet sind Mädchen. Sie nutzen die sozialen Medien intensiver als Buben.
3. Einsamkeit: Studien sagen übereinstimmend, dass sich Jugendliche seit 2010 zunehmend isoliert fühlen. Die digitale Kommunikation raubt so viel Zeit, dass persönliche Kontakte zu kurz kommen. Die Zahl der Freundschaften im realen Leben nimmt ab, und die gemeinsam verbrachte Zeit sinkt rapide. Das freie Spielen draussen, der Umgang mit Gefahren in der realen Welt – für die Entwicklung des Gehirns enorm wichtig – kommen zu kurz.
4. Vergleichswahn: Die erste Smartphone-Generation – das iPhone wurde 2007 erfunden – war laut Haidt relativ ungefährlich. Erst die Explosion des App-Angebots und der sozialen Medien wie Tiktok, Snapchat oder Instagram führte zu gesundheitlichen Problemen. Etwas Entscheidendes geschah 2010: Mit dem iPhone 4 kam das erste Smartphone mit hochwertiger Frontkamera auf den Markt. Die Selfie-Kultur auf den sozialen Plattformen fördert ständige Vergleiche mit anderen, was oft zu einem verringerten Selbstwertgefühl führt. Sie beeinträchtigt die Identitätssuche in der Pubertät – man ist unzufrieden mit sich selbst.
5. Konzentrationsprobleme: Die ständige Ablenkung durch Smartphones und die schnellen Belohnungen durch soziale Medien beeinträchtigen die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit zur Konzentration. Oft können sich Teenager nur noch wenige Minuten auf einen Text konzentrieren, dann brauchen sie einen neuen Reiz. Dies hat Auswirkungen auf das Lernen und die schulischen Leistungen.
Wohl selten hatte ein Buch derart handfeste Folgen wie «Generation Angst» – in Schulbehörden und in der Politik. Logisch, dass das Kritiker auf den Plan ruft. Sie monieren, es sei wissenschaftlich nicht abschliessend erwiesen, dass die Zunahme psychisch kranker Jugendlicher auf den erhöhten Smartphone-Konsum zurückzuführen sei. Die NZZ zitierte jüngst den Psychologen Chris Ferguson, der sagte: «Haidt ist weniger von wissenschaftlichem Denken als von einer starken moralischen Intuition geleitet.»
Haidt nimmt diesen Vorwurf in seinem Buch vorweg und fragt zurück: Was könnten denn, wenn nicht die neue Dominanz des Smartphones im Leben der Jugendlichen, andere Gründe dafür sein, dass just ab 2010 die bis dahin stabile Depressionsrate unter Teenagern explodieren konnte?
Den Plausibilitätstest besteht Haidts These jedenfalls: Beobachtungen von Schulen und Eltern decken sich mit dem von ihm beschriebenen Zusammenhang. Darum fallen seine Forderungen auf fruchtbaren Boden. Der Wissenschafter plädiert ausdrücklich für «handyfreie Schulen». Kompromisslösungen wie in Muttenz BL oder Frick AG genügen für ihn nicht. Schüler sollten das Smartphone in eine Box einschliessen müssen, wenn sie an der Schule eintreffen, fordert Haidt. Das Suchtmittel immer in der Nähe zu wissen, wenn auch abgeschaltet, genüge nicht. Es müsse gelten: Aus den Augen, aus dem Sinn!
Oberstufenzentren, die noch keine Restriktionen kennen, dürften nach den Sommerferien unter Druck geraten. Oft sind es Elternräte, welche Verschärfungen fordern. Ein Argument, das man dann hört, ist ebenfalls plausibel: Statt dass Hunderte von Eltern zu Hause einen Kampf mit ihren Kindern darüber führen, wie sie das Handy tagsüber nutzen, soll eine hoheitliche Regelung, die für alle gilt, die Konflikte reduzieren. Dann gibt es nicht mehr die Eltern, die ihren Kindern alles erlauben, und die, welche sich unbeliebt machen und für ihre Kinder den Konsum tagsüber einschränken.
Umgekehrt erhalten Schulen, die schon vor vielen Jahren Verbote erlassen haben, viel Aufmerksamkeit und werden von Aussenseitern zu Vorbildern. SRF und der Zürcher «Tages-Anzeiger» berichteten etwa über die Schule Würenlos AG und bilanzierten: «Diese Schule ist handyfrei – und die Teenager sind begeistert.» (aargauerzeitung.ch)