Ein Kollege aus der Redaktion von SPIEGEL ONLINE hatte kürzlich ein für ihn unangenehmes Erlebnis im Taxi. Er hatte den Wagen per App bestellt. Als der Kollege sich angeschnallt hatte, begann der Fahrer, um Lob zu bitten. Ob man denn mit der Fahrt zufrieden sei, fragte der Mann, man werde ihm doch hoffentlich eine gute Beurteilung zuteil werden lassen. Das einzige, was der Kollege am Ende der Fahrt tatsächlich zu bemängeln hatte, war das fortgesetzte Betteln.
Wir haben uns an die Macht der Sternchen und Punkte gewöhnt. Wenn wir ein Hotel suchen, prüfen wir, ob es gut bewertet wurde, bei Ebay kaufen wir definitiv nicht bei jemandem, der viele Negativbewertungen hat, bei Amazon werden wir misstrauisch, wenn die obersten Kundenrezensionen allzu euphorisch klingen. Dann lesen wir vorsichtshalber nach, was die Kunden so geschrieben haben, die nur einen oder zwei Sterne vergeben wollten. Fast bei jeder online getätigten Konsumentscheidung steht uns heute der Wissensschatz vieler unserer Vorgänger zur Verfügung, die schon mit dem gleichen Mixer püriert, beim gleichen Händler gekauft haben. Manche davon sind bezahlte Claqueure, aber das wissen wir ja.
Manchmal betreffen die Bewertungen ganze Unternehmen, manchmal ein konkretes Produkt und manchmal eine bestimmte Person. Emotional unangenehm ist nur letzteres, so wie im Fall des um Lob bettelnden Taxifahrers. Er habe keine Lust, völlig normale Alltagstransaktionen ständig bewerten zu müssen, sagt der Kollege. Das sei lästig und anstrengend.
Die Situation macht auf sehr persönliche Art die neue Macht des Kunden in der Sternchenwelt erfahrbar. Lob oder Tadel haben einen monetären Wert, sie können unmittelbare Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wohl und Wehe Einzelner haben. Ins Auto eines Fahrers, in dessen Profil zwei Sternchen stehen, wird kaum noch jemand einsteigen. Bei Uber dürfte er gar nicht mehr fahren. Das Magazin «Wired» warnte vor einiger Zeit schon einmal, man müsse schon gute Gründe haben, einem Uber-Fahrer weniger als fünf Sternchen zu geben, denn dessen wirtschaftliche Existenz hänge von seiner Punktzahl ab.
Ebay hat uns längst daran gewöhnt, Fremden im Netz - bis zu einem gewissen Grad - zu trauen. Ohne Bewertungen würde das nicht funktionieren. Sie ersetzen das Vertrauen, das Unternehmen mit ihrem Ruf oder doch wenigstens ihrer juristischen Haftbarkeit herstellen.
In dem neuen Wirtschaftszweig, den man im Silicon Valley Share Economy getauft hat, geht es ohne Bewertungen gar nicht mehr. Unternehmen wie Airbnb, 9Flats oder Uber verkaufen keine Dienstleistungen mehr an Kunden, sondern vermitteln lediglich zwischen Anbieter und Abnehmer, so wie Ebay. Hier haben Bewertungen eine ganz neue Wucht. In einem aktuellen Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» sagt Uber-Sprecher Fabien Nestmann: «Wenn einzelne Fahrer häufiger unfreundlich sind, können wir sie schnell zum Gespräch bitten.» Bei Uber, das ist das Selbstverständnis, mit dem das Unternehmen auftritt, ist der Fahrgast wirklich König, und die Bewertung des Fahrers per Fingertippen ein hoheitlicher Akt. Auch wenn die Fahrer ihrerseits das Recht haben, ihre Fahrgäste zu bewerten. Wenn die zu wenige Sternchen haben, müssen sie eben wieder Taxi fahren.
Wer von einer Heerschar von Königen regiert wird, braucht der eigentlich noch Gesetze? Im gleichen Interview erklärt Nestmann, welche Formen der Deregulierung sich sein Arbeitgeber wünscht: keine Beförderungspflicht mehr, keine Gesundheitsprüfungen und auch keine für Ortskenntnis. Bis «zum Beispiel» zu 450 Euro Einnahmen im Monat sollten Uber-Fahrten als «privat» gelten und pauschal besteuert werden, als eine Art «Minijob für Selbstständige». Das letzte Wort ist hier entscheidend: Für Uber sind all die Fahrer, deren Arbeitskraft die Plattform vermittelt, selbstständig. Eigenverantwortlich. Frei. Abhängig nur vom Urteil der Könige.
Die Kundenbewertungen spielen dabei eine zentrale Rolle. Wenn sich jemand danebenbenimmt, das Auto voller Müll liegt oder der Fahrer betrunken wirkt, dann wird das per Ein-Sternchen-Bewertung aktenkundig. Regulierung erfolgt aufgrund des Kundenfeedbacks mit der Fingerspitze.
Nach dieser Logik werden alle, die mitmachen beim Bewertungskarussell, zu einer Art kollektiver Gewerbeaufsicht: Wenn wir alle der Meinung sind, dass leere Burgerpackungen im Fussraum eines Taxis nicht akzeptabel sind, dann können wir gemeinsam dafür sorgen, dass sie verschwinden. Wir müssen nur oft genug unseren Unmut kundtun. Die Dienstleistungen, die Uber, Airbnb und Co. vermitteln, müssten mit jeder bewerteten Transaktion immer besser und besser werden, ganz ohne staatliche Einmischung.
Der bewertungsbasierte Kapitalismus sorgt nicht nur für höfliches Personal, saubere Autos und Hotelzimmer, er schafft auch ganz von selbst, crowdbasiert sozusagen, Qualitätsstandards. Was viele Kunden als gut genug bewerten, ist es auch.
Überträgt man diese Denkweise auf andere Branchen, tun sich erstaunliche Möglichkeiten auf: Restaurants müssen nicht mehr von Gesundheitsämtern kontrolliert werden, das Online-Feedback der Gäste wird schon die Spreu vom Weizen trennen. Zugegeben: Das ständige Bewertenmüssen, das ständige Flehen um öffentliches Lob könnte uns als Kunden vielleicht ein bisschen auf die Nerven gehen. Und für die Anbieter von Dienstleistungen würde das Leben vermutlich anstrengender, der Konkurrenzkampf härter, Profitmargen würden schrumpfen.
Manchmal müsste kollektive Weisheit auch wieder von heroischen Einzelnen hergestellt werden, die das Pech haben, mit der Spreu in Berührung zu kommen. So wie irgendwann einmal jemand mit persönlichem Einsatz entdeckt hat, dass Knollenblätterpilze giftig sind. Mutige Erstbewerter müssten überprüfen, ob ein neues Sushi-Restaurant wirklich frischen Fisch oder ein Bungee-Jump-Anbieter wirklich stabile Gummiseile verwendet. In manchen Fällen müsste das Bewerten womöglich postum von Familienangehörigen übernommen werden, als letzter Dienst des Verstorbenen an der Menschheit. König bis zuletzt, gewissermassen.
Uneingeschränkt gut wäre der Bewertungskapitalismus vor allem für die Betreiber der Plattformen. Schliesslich müssten sie für nichts mehr Verantwortung übernehmen. Ausser für die Gewinne ihrer Anteilseigner. Und das Funktionieren ihres Bewertungssystems.