Eigentlich ist die Sache glasklar: «Wir haben auf Twitter eine Null-Toleranz-Politik in Bezug auf den sexuellen Missbrauch von Kindern», ist auf der Webseite zu lesen. Wer dagegen verstosse, werde «in den meisten Fällen sofort und dauerhaft gesperrt». Elon Musk hatte den Kampf gegen solche Inhalte nach dem Twitter-Kauf – oder müssen wir jetzt X sagen? – zur Chefsache erklärt.
Trotzdem schaltete Twitter am Donnerstag das Nutzerkonto eines rechtsorientierten Influencers wieder frei, der zuvor zwei Bilder eines sexuell misshandelten Kleinkindes getwittert hatte und dafür temporär gesperrt wurde. Veröffentlicht wurden die Bilder vom Verschwörungserzähler Dominick McGee, der über 600'000 Follower hat. Der QAnon-Anhänger verbreitet unter seinem Twitter-Namen Dom Lucre schon lange Verschwörungsmythen über Kinderhandel.
Als McGees Anhänger protestierten, er sei wegen seiner politischen Äusserungen gesperrt worden, stellte Musk am Mittwoch klar, dass es wegen der besagten Fotos war. Kurz darauf schrieb er: «Wir werden diese Beiträge vorerst löschen und das Konto wieder herstellen.»
«Nur Leute aus unserem CSE-Team haben diese Bilder gesehen», behauptete Musk fälschlicherweise. Er bezog sich dabei auf jene Angestellten bei Twitter, die gemeldete Tweets auf sexuelle Ausbeutung von Kindern hin überprüfen.
Effektiv war der Tweet mit den Fotos vier Tage lang online und es gibt Screenshots, die darauf hindeuten, dass er über drei Millionen Mal angezeigt wurde.
Musk geriet darauf unter Beschuss. Das US-Medium Vice titelte: «Elon Musk Welcomes Child Sex Abuse Imagery Poster Back to Twitter» (Elon Musk begrüsst Kindesmissbrauch-Bildmaterial-Poster zurück auf Twitter).
Elon Musk just confirmed that a prominent right wing influencer on the platform was suspended for posting "child exploitation pictures"
— Matt Binder (@MattBinder) July 26, 2023
also Musk confirmed that they just reinstated his account pic.twitter.com/H8Qp345vPd
McGee sagte, er habe die teilweise unkenntlich gemachten Bilder veröffentlicht, um auf den Sexhandel mit Kindern aufmerksam zu machen. Üblicherweise gelten aber auch teils geschwärzte Fotos als illegal, sofern klar ist, dass es sich um ein Kind handelt.
Warum also wurde sein Konto wieder aktiviert?
Strikt verboten ist laut Twitters Richtlinien «jeder Inhalt, der die sexuelle Ausbeutung von Kindern darstellt oder befürwortet». Weiter heisst es, man könne User wieder freischalten, wenn keine «böswillige Absicht» vorliege. Offenbar ist Twitter hier zu diesem Schluss gekommen.
Das Unternehmen oder Musk haben sich nicht weiter dazu geäussert.
Bei den beiden Bildern handelt es sich um zwei Screenshots aus einem berüchtigten Kindesmissbrauch-Video, das von Peter Gerard Scully erstellt wurde. Der Australier, der auf den Philippinen unzählige Kinder sexuell missbraucht hatte, wurde vor einem Jahr zu 129 Jahren Haft verurteilt.
McGee ist ein Obama-Hasser und populär bei Anhängern der antisemitischen QAnon-Bewegung, einem Sammelsurium abstruser Verschwörungserzählungen. Die Anhänger glauben etwa, dass eine satanische Elite, insbesondere Juden, die Welt beherrsche und hochrangige Politiker der Demokratischen Partei einen internationalen Kinderhändlerring zur Prostitution Minderjähriger betreibe.
Am Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine twitterte McGee, Putin bekämpfe «den Deep State in der Ukraine».
Musk liess nach dem Kauf von Twitter im Oktober 2022 zuvor gesperrte QAnon-Profile wieder aktivieren. Er begnadigte auch Donald Trump und zwischenzeitlich den bekannten Neonazi Andrew Anglin, der 2013 verbannt worden war.
Laut «Washington Post» werden neuerdings auch einige prominente und extrem rechtsstehende Accounts auf Twitter als Inhalte-Ersteller an den Werbeeinnahmen des Unternehmens beteiligt. McGee twitterte, dass auch er bezahlt wurde.
Musk sagte nach seiner Twitter-Übernahme, dass der Kampf gegen Missbrauchsdarstellungen Minderjähriger «höchste Priorität» habe. Er deutete gar an, das frühere Management sei zu beschäftigt gewesen, konservative Stimmen zu unterdrücken, um sich um Kinder-Ausbeuter zu kümmern.
Dafür gab es Applaus aus rechtskonservativen Kreisen und von selbst ernannten Kinderschutz-Advokaten. Um Twitters angebliche Null-Toleranz-Politik gegenüber Kinderpornografie ist es aber weiterhin schlecht bestellt. Kurz nach seiner Machtübernahme hat Musk den Grossteil der externen Angestellten gefeuert, die problematische Tweets identifizieren sollten. Inhalte-Kontrolle ist dem «Absolutisten der Meinungsfreiheit», wie sich der Tech-Milliardär selbst nannte, ein Gräuel.
Die Folge: Selbst Inhalte mit Missbrauchsdarstellungen von Kindern würden teils wochenlang nicht entfernt, klagen inzwischen sogar loyale Musk-Fans. Selbiges hat bereits im Februar der deutsche IT-Rechtler Chan-jo Jun angeprangert: Systematische Untersuchungen in Deutschland hätten gezeigt, dass «selbst bei offenkundigen Straftaten Löschungen die absolute Ausnahme» seien. Sogar Abbildungen von Kindesmissbrauch blieben stehen. Twitter setze auf schlechte Algorithmen oder mangelhafte Moderationsregeln und sei bisher damit durchgekommen, «da keine Sanktion zu erwarten war», kritisierte Jun.
Die Probleme reichen noch tiefer: Twitter nutzt seit Jahren Microsofts Technologie PhotoDNA, um Nacktbilder von Kindern und Jugendlichen aufzuspüren, zu blockieren und den Strafbehörden zu melden. Anfang Juni berichtete das Stanford Cyber Policy Center, dass Twitter bekannte Bilder von sexuellem Kindesmissbrauch im grossen Stil online liess, da die «Filter-Software» ausfiel. Technische Pannen können passieren, aber offenbar wurde der Fehler wochenlang nicht bemerkt.
Bei Twitter ist die Belegschaft unter Musk von über 7000 auf ungefähr 1500 Angestellte geschrumpft: «Es scheint, dass sie ziemlich ins Rudern kamen, als die Erkennungsmechanismen ausfielen und sie kein Team hatten, das dieses spezielle Problem schnell beheben konnte», sagte David Thiel, Cheftechnologe am Stanford Internet Observatory.
Für Twitters Werbegeschäft ist all dies potenziell verheerend. Musk hatte zuletzt eingestanden, dass sich die Werbeeinnahmen seit seiner Übernahme halbiert haben. Neue Kunden zu gewinnen, wird nun nicht einfacher.
Das würde erstens den Narzissten Musk helfen und zweitens gleichzeitig die ganze Marke Twitter/X schwächen weil der Bezug nicht jedermann klar ist.
Daraus folgt ein weiterer Schwund an Besuchern con X, was wiederum die Werbeeinnahmen senkt.
Am Ende wäre X endlich am Ende und konnte geschlossen werden.