Die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsländer haben Jean-Claude Juncker am Freitag für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert, gegen den Widerstand Grossbritanniens und Ungarns. Die Wahl des 59-jährigen Luxemburgers durch das Europäische Parlament dürfte nur eine Formsache sein. Der ehemalige Ministerpräsident des Grossherzogtums ist ein bekennender Freund der Schweiz, er verbringt seine Ferien vorzugsweise im Tessin.
Diese Tatsache weckt da und dort die Hoffnung, das seit dem 9. Februar arg strapazierte Verhältnis zur Europäischen Union könnte sich entspannen. Der Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» bezeichnete die Wahl des «Schweiz-Verstehers» in einem Leitartikel als gute Nachricht. Als Vertreter eines Kleinstaats werde Juncker nicht in Versuchung kommen, sich aussenpolitisch von Grossmachtfantasien leiten zu lassen. Auf der Personenfreizügigkeit als «tragende Säule der europäischen Konstruktion» werde er beharren, «ohne den Druck auf die Schweiz weiter zu erhöhen».
Jean-Claude Juncker als Retter des bilateralen Weges? Schon vor seiner Wahl durfte man sich wenig Hoffnung in diese Richtung machen. In einem Interview, das zwei Tage nach der Abstimmung über die SVP-Zuwanderungsinitiative im «Tages-Anzeiger» erschien, machte der christlich-soziale Politiker seiner Enttäuschung über das Ergebnis mit undiplomatischer Deutlichkeit Luft: «Alle, die sich immer für die Schweiz in Brüssel einsetzten, werden es jetzt schwer haben.» Er halte den Verhandlungsspielraum für sehr eng, sagte Juncker: «Dieser Volksentscheid wird Folgen haben.»
Die Westschweizer Zeitung «Le Temps» kommentierte Junckers Nominierung denn auch mit Zurückhaltung: «Jean-Claude Juncker kennt unser Land, aber er wird nicht als sein Anwalt agieren.» Als Präsident der EU-Kommission sei er den Interessen der Mitgliedsstaaten verpflichtet, nicht jenen der Schweiz. Schon als Regierungschef von Luxemburg habe er im Zweifelsfall wenig Rücksicht genommen. Lange kämpfte Juncker mit der Schweiz für das Bankgeheimnis, um am Ende doch auf den automatischen Informationsaustausch umzuschwenken.
Wichtiger als Junckers Wahl sei für die Schweiz ohnehin die neue Spitze der EU-Diplomatie. Die Aussenbeauftragte Catherine Ashton wird abtreten, ihr Stellvertreter David O'Sullivan als EU-Botschafter nach Washington wechseln. Er war bislang der Ansprechpartner der Schweiz. Es sei wenig wahrscheinlich, dass das Dossier Schweiz erneut einem Diplomaten auf gleicher Ebene anvertraut wird, meint «Le Temps», denn die EU habe wichtigere Probleme.
Im Klartext: Bern wird sich mit Gesprächspartnern niederen Ranges herumschlagen müssen. Der neue Kommissionspräsident wird sich kaum einmischen. Er wird genug damit zu tun haben, die divergierenden Kräfte innerhalb der EU zusammenzuführen: Jene, die mehr Integration wollen – etwa der neue italienische Regierungschef Matteo Renzi – und jene wie der britische Premier David Cameron, die mit dem Austritt drohen.