Die britische Premierministerin Theresa May steht nur Tage vor dem eigentlich geplanten Brexit-Termin vor einer dritten Abstimmungsniederlage im Parlament mit ihrem Austrittsabkommen. Zwei Mal, Mitte Januar und Mitte März, war sie damit bereits krachend gescheitert.
Die EU stimmte einer Verschiebung des EU-Austritts zwar zu, doch in London scheint die Geduld mit der Premierministerin weitgehend am Ende zu sein.
Britische Medien sprachen am Wochenende von Schicksalstagen für die britische Regierungschefin. Sie berichteten am Sonntag unter Berufung auf Regierungskreise, May könnte schon bald von ihrem Kabinett zum Rücktritt gezwungen werden.
Der «Times» zufolge gibt es bereits Überlegungen, dass Vize-Premier David Lidington als Interimsregierungschef einspringt. Er soll demnach einen neuen Kurs für den EU-Austritt ausloten und im Herbst für einen dauerhaften Premierminister Platz machen. Die Zeitung berief sich auf elf ungenannte Regierungsmitglieder, die May stürzen wollten.
Der «Daily Mail» zufolge hat auch Umweltminister Michael Gove seinen Hut als Nachfolger von May in den Ring geworfen. Er gilt als besonders gut vernetzt. «Es ist heute Nacht ein ausgewachsener Kabinetts-Putsch im Gange», schrieb auch der Politik-Redakteur Tim Shipman der «Sunday Times» am Samstagabend auf Twitter.
Der Widerstand der Brexit-Gegner im Land nimmt auch auf der Strasse weiter zu: An einer Anti-Brexit-Demo in London beteiligten sich am Samstag nach Angaben des Veranstalters People's Vote mehr als eine Million Menschen aus allen Teilen Grossbritanniens. Es sei einer der grössten Demos in der Geschichte des Landes gewesen. Die Polizei gab dazu keine Schätzungen ab.
'The PM claims she speaks for Britain. Have a look out of your window PM. Look at this magnificent crowd. Here are the people... You don’t speak for us,' @tom_watson calls for the public to be allowed to decide the future of Brexit #PutItToThePeopleMarchhttps://t.co/LrbjFJt09d pic.twitter.com/6XcfpJkFcA
— ITV News (@itvnews) 23. März 2019
Auch auf einer Kundgebung zum Abschluss des Marsches vor dem Parlament hagelte es Kritik an May. «Premierministerin, Sie haben die Kontrolle über diesen Prozess verloren. Sie stürzen das Land in ein Chaos; lassen Sie das Volk die Kontrolle übernehmen», sagte der stellvertretende Chef der oppositionellen Labour-Partei, Tom Watson.
Die Organisatoren fordern ein zweites Referendum, bei dem die Bürger über den endgültigen Brexit-Deal abstimmen dürfen. Viele Demonstranten hatten während des Marsches bei gutem Wetter blaugelbe Europa-Fahnen dabei und waren in diesen Farben gekleidet. An dem Protest nahmen auch Familien teil. «Ich bin sieben Jahre alt und demonstriere für meine Zukunft», stand auf dem Schild eines Kindes.
Eine Online-Petition für den Verbleib Grossbritanniens in der EU entwickelt sich unterdessen zum Renner und steuert auf fünf Millionen Unterzeichner zu. Zeitweise war die Webseite wegen des Ansturms lahmgelegt. Das Parlament muss den Inhalt jeder Petition mit mehr als 100'000 Unterzeichnern für eine Debatte berücksichtigen.
May übte mit einem Brief mehr Druck auf ihre Abgeordneten aus. In dem Schreiben heisst es, dass die Parlamentarier womöglich doch nicht zum dritten Mal über das Brexit-Abkommen abstimmen könnten. Sie würde den Deal nur dann wieder zur Abstimmung vorlegen, falls sich eine ausreichende Unterstützung abzeichne, stellte May klar. Ansonsten müsse Grossbritannien in Brüssel um einen weiteren Aufschub bitten, was aber eine Teilnahme an der Europawahl bedeuten würde.
Parlamentspräsident John Bercow hatte bereits darauf hingewiesen, dass das Unterhaus kein drittes Mal über den denselben Deal abstimmen dürfe. Dies verstosse gegen eine 415 Jahre alte Regel, wonach eine Vorlage nicht beliebig oft zur Abstimmung gestellt werden dürfe.
Sollte das Parlament im dritten Anlauf dem Abkommen zustimmen, tritt Grossbritannien am 22. Mai in geordneter Weise aus der EU aus. Gibt es aber ein drittes Nein, muss London bis zum 12. April erklären, wie es weitergehen soll – und die anderen EU-Länder müssten dem Plan zustimmen. Denkbar wäre eine Verschiebung um mehrere Monate, verknüpft zum Beispiel mit einer Neuwahl in Grossbritannien.
Ursprünglich wollte Grossbritannien die Europäische Union schon am kommenden Freitag (29. März) verlassen. Doch das Parlament ist so zerstritten, dass der Termin nicht mehr zu halten war. (sda/dpa/afp/reu)