Rund zwei Jahrzehnte nach ihrer Vertreibung aus Kabul durch eine US-geführte Militärkoalition beherrschen die militant-islamistischen Taliban wieder grosse Gebiete Afghanistans. Als Vorbedingung für Friedensverhandlungen verlangen die Taliban nun selbstbewusst die Freilassung von 400 ihrer als besonders gefährlich eingeschätzten Kämpfer.
Eine Grosse Ratsversammlung afghanischer Würdenträger, die Loja Dschirga, kommt heute in Kabul zusammen, um über diesen heiklen Punkt zu beraten.
Mehr als die Hälfte der Bezirke des Landes sind umkämpft, wie aus einer dpa-Recherche in den 34 Provinzen hervorgeht. Unter voller Regierungskontrolle stehen knapp 40 Prozent der Bezirke.
Vor drei Jahren hatte die Regierung laut Daten des US-Generalinspekteurs für den Wiederaufbau in Afghanistan mit insgesamt 60 Prozent noch mehr Einfluss in den Bezirken. Vielerorts haben die Taliban Schattenherrschaften etabliert. Die Provinzhauptstädte sind in Regierungshand, doch hier agieren die Islamisten oft aus dem Untergrund.
Während die täglichen Gefechte und Anschläge zeigen, wie zerbrochen Afghanistan ist, liegt das wahre Ausmass des Konflikts offiziell im Verborgenen. Ende 2018 erklärte die Regierung wichtige Daten zur Geheimsache.
In welchen Gegenden die militant-islamistischen Taliban besonders stark sind, steht seitdem unter Verschluss. Auch die täglich Dutzenden Todesopfer der Streitkräfte tauchen in keiner offiziellen Statistik mehr auf.
Der Einfluss der Taliban sei im Land unterschiedlich hoch, sagt der Afghanistanexperte Andrew Watkins von der International Crisis Group. Ihre landesweiten Militäroperationen verfolgen daher auch die Strategie, internationale Aufmerksamkeit zu erlangen.
«Sie wollen als die einzige politische Einheit in Afghanistan angesehen werden, die das ganze Land erreicht hat», so Watkins. Dies sei spätestens seit ihrer kurzzeitigen Eroberung der nördlichen Stadt Kundus im Jahr 2015 Realität. In dieser Provinz, wo auch die deutsche Bundeswehr stationiert ist, steht kein Bezirk unter voller Kontrolle der Regierung.
Ein Abkommen mit den USA versprach den Taliban Ende Februar einen Abzug der internationalen Truppen, ein langes Ziel der Gruppe. Im Gegenzug versicherten die Islamisten, ihre Beziehungen zu anderen Terrorgruppen zu beenden. Gleichzeitig zeigten sie sich bereit zu innerafghanischen Friedensgesprächen, um den Konflikt zu beenden.
Nicht allen Afghanen gefällt der Deal, weil die Regierung nicht daran beteiligt worden war. Das Abkommen schenke den Taliban zu viel internationale Anerkennung, bemängeln Kritiker im Land.
Doch die Friedensverhandlungen der Islamisten mit der Regierung haben nicht begonnen, auch weil die Taliban und Kabul über Details eines Gefangenentausches streiten, der als Vorbedingung der Gespräche vereinbart worden war. Die Loja Dschirga soll nun drei Tage lang über die Lage beraten und der Regierung einen Weg aufzeigen.
Es geht dabei auch um das Schicksal der 400 Gefangenen, deren Freilassung die Taliban fordern. Dies ist umstritten, weil unter ihnen Drahtzieher von Anschlägen sind. «Ob das seine Absicht war oder nicht, die Veranstaltung einer Loja Dschirga gibt Präsident Ghani eine politische Tarnung für eine schwierige Entscheidung», so Watkins.
Obwohl die Taliban stets zahlenmässig unterlegen waren und gegen einen überlegenen Gegner heftige Verluste erlitten, finden sie auch heute noch Zulauf. Bis zu 70'000 Kämpfer stehen schätzungsweise im Dienst der militanten Gruppe. Ihren Kampf finanzieren die Taliban vor allem durch den Drogenhandel und Opiumanbau.
Aber auch Steuern erheben die Islamisten in Gebieten unter ihrer Kontrolle. Fahrer, die Waren durch umkämpfte Gebiete bewegen, müssen an Strassensperren teils hohe Zölle zahlen. «Die Bauern können ihre Ernte nicht ohne einen Vertreter der Taliban abholen», erzählt etwa ein Mann aus der Provinz Kundus.
Doch was bedeutet ein möglicher Frieden mit den Taliban? Zwar fordert die afghanische Regierung stets den Beginn der Friedensgespräche, doch auch Kabul verzögert den Prozess. «Es ist unbestreitbar, dass es kein Gefühl der Dringlichkeit bei der Aufnahme der Gespräche gegeben hat», sagt Watkins.
Insbesondere auch, weil Gespräche mit den Taliban in der Zivilgesellschaft und bei den afghanischen Streitkräften nicht besonders beliebt sind. Aktivistinnen etwa fürchten sich vor einer Machtteilung mit den islamistischen Taliban, die Erinnerungen an die brutale Herrschaft der Gruppe in den 1990er Jahren wecken.
Und auch innerhalb der Taliban ist ein möglicher Friedensschluss nicht unumstritten. Experten schätzen, dass radikale Taliban aus ideologischen Gründen zu anderen Terrororganisation überlaufen könnten, weil sie eine zivile Gesellschaftsordnung ablehnen, mit Krieg und Waffen aufgewachsen sind.
Auch Watkins sieht dieses Szenario: «Niemand kann wirklich sagen, wie viel Arbeit die eigene Führung der Taliban leisten wird oder kann, um ihre Mitglieder von der Idee einer friedlichen Lösung zu überzeugen.»